- Lebensträume und Lebensentwürfe
- Wie würde ich mir mein
Leben einrichten wollen, wenn ich frei wäre, mir ohne pessimistische
Denkhemmung einfach ein Modell auszudenken? Und wenn ich dann
alles daransetzen würde, dieses Modell zu verwirklichen,
würde meine Kraft und die meiner Freunde ausreichen, es
zu verwirklichen? Falls mein Modell verwirklicht werden könnte,
würde ich mich wirklich darin wohl fühlen können?
-
- Die Idee, einen Entwurf von
seinem Leben zu machen, hat nicht jeder Mensch. Als Kind und
Jugendlicher war mir klar, daß ich einmal heiraten, Kinder
haben werde, später in geordnete Rente
gehen werde. Ich habe mir sogar Szenen aus meinem häuslichen
Familienleben gemerkt, um an ihnen später einmal überprüfen
zu können, ob sich alles wiederholt. In solche konservative
rückwärts gerichtete Vorstellungen platzte die Scheidung
meiner Eltern.
-
- Meine Lehre, meine Berufsarbeit,
meine Bundeswehrzeit und meine Zeit am Abendgymnasium ließen
solche Gedanken nicht mehr zu. Es kamen die sogenannten 68er
Jahre, und nun empfand ich mich und die Umwelt voller schöner
neuer Möglichkeiten. Ich leistete selbstverständlich
meine tägliche Berufsarbeit, sorgte mich jedoch nicht sonderlich
um die persönliche Zukunft in dieser Gesellschaft.
-
- Aber ich arbeitete mit, wie
ich meinte, an einer besseren gesellschaftlichen Zukunft. Interessant
ist vielleicht, daß das Formale, was wir uns für die
bessere neue Gesellschaft erarbeiteten, heute (1998) mit konservativen
Inhalten angereichert, das ist, was gesellschaftlich erwartet
wird: Teamfähigkeit, Eigenverantwortlichkeit, Ganzheitlichkeit
sowie Handlungsorientiertheit.
Früher
verteidigten konservative Menschen den Individualismus gegen "den
Kollektivismus" der Linken und meinten damit ihre Freiheit,
zugunsten eigener Vorteile gegen andere anzutreten. Unter den
heutigen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gilt der Individualismus
als eine linke Verweigerungshaltung gegenüber den Verhaltensmustern,
die nun in der Wirtschaft und dem Staat erwartet werden.
- 1. Gesellschaftspolitisches Coming-out
Irgendwelche Vorstellungen
von einem persönlichen Lebensentwurf zu entwickeln, das
empfanden wir als spießig und verstaubt, das erinnere an
den Kinderglauben, meinten wir, wo das Leben, das wir doch nun
als eine riesige Summe von Möglichkeiten empfanden, eingeengt
und vorstrukturiert war.
-
- In diese Zeit platzte dann auch
noch mein Coming-out. Ich war der Linke unter den Schwulen, wehrte
mich hier gegen hier vorherrschende konservative gesellschaftspolitische
Vorstellungen und den ängstlichen Rückzug in die plüschige
Subkultur.
-
- Ich war der Schwule unter den
Linken und wehrte mich hier gegen das oftmals allzu unkritisch
übernommene Geschlechtsrollenmodell. Im Gegenteil wurde
später, als die sogenannten K-Gruppen nach und nach an die
Stelle der spontanen Zusammenschlüssen traten, mit dem Prädikat
"proletarische Moral" eine Spießigkeit gerade
unter Linken vorangetrieben, die sich
kaum von dem unterschied, was wir schon aus anderen Zusammenhängen
kannten. Lese hierzu auch "Saubere Mädel und starke
Genossen", was im rosa Winkel Verlag Berlin erschienen ist.
-
- Man sollte nicht vergessen,
daß die K-Gruppen-orientierten Linksintellektuellen in
ihrem manchmal schon lächerlich anmutenden Proletkult nicht
deshalb links waren, weil sie das Leiden der Proletariats verspürten,
sondern weil ihnen die Ausbeutung der Arbeiterklasse unmoralisch
erschien (erscheint). Sie sind (waren) Moralisten und für
moralische Ansprachen empfänglich.
-
- 2. Erste Entmutigungen
Die neue Zeit trat nicht
ein, Illusionen zeigten sich als solche, aber vieles wollten
viele von uns nicht einfach aufgeben, was wir als 68er Linke
als angenehm und inhaltlich richtig empfunden haben, denn andere
glaubwürdige gesellschaftliche Werte waren auch nicht in
Sicht. Im Gegenteil. Es gab nur Doppelmoral und lediglich die
Geilheit, sich auf anderer Menschen Kosten zu bereichern und
profilieren, was jede soziale Verantwortung ausschließt.
-
- Heute hört man bisweilen
Äußerungen von Leuten, die behaupten, damals auch
dabei gewesen zu sein. Sie hätten unterdessen aber ihre
Fehler eingesehen. Da frage ich mich doch, ob sie nicht in Wirklichkeit
schon damals zum Beispiel als Mitglieder der Jungen Union Adressen
von 68er gesammelt haben, denn nicht alle, die damals an den
Auseinandersetzungen teilgenommen haben, haben alles verstanden
und haben bei den Auseinadersetzungen dies auf unserer Seite
getan.
Unsere Alternativen versuchten wir im täglichen Leben zu
verwirklichen, wenn nicht im Berufsleben, dann doch wenigstens
zu Hause. Es zeigte sich nun aber auch, daß die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen uns auch privat keinen allzu großen Spielraum
ließen.
-
- Unser Leben, wie wir es erträumten,
paßte weder in den sozialen Wohnungsbau, der damals noch
existierte, noch in den vorhandenen Arbeitsmarkt, fand weder
bei Verwaltungen noch an Stammtischen Verständnis.
-
- Wir empfanden den Zwang, den
andere nicht empfanden, deren Lebensvorstellungen in den vorhandenen
Rahmen paßten.
-
- So blieben von unseren Träumen
des freien und gleichzeitig geborgenen zusammen Lebens, zusammen
Liebens und des zusammen Arbeitens doch nur mehr oder weniger
konsequent ausformulierte oder durchdachte Entwürfe.
-
- 3. Kurze Analysen
Wie soll mein Leben wirklich
sein? Wie will ich wirklich leben? "Seid Realisten, verlangt
das Unmögliche", hieß einer unserer optimistischen
Sprüche. Gäbe es nicht die Zwänge, die uns hindern,
wie wollten wir wirklich leben?
-
- Und müssen diese Zwänge
sein? Sind sie wie unabänderliche Naturgesetze oder in Wirklichkeit
gesellschaftlicher Natur und somit zum Nutzen einiger Weniger
eingerichtet worden und infolgedessen auch gesellschaftlich zu
bekämpfen? Kann man solchen Zwängen Widerstand leisten?
Das ginge, indem solche Strukturen bekämpft würden,
die es den Nutznießern ermöglichen, von diesen Zwängen
zu profitieren, wußten wir. Haben wir letztlich genügend
Ausdauer und können wir deshalb solche Zwänge beseitigen?
-
- 4. Die Tugenden der 50er
So wie unsere Eltern
(und die Eltern der anderen linken Studenten und bewegten Jugendlichen)
wollten wir nicht sein, das war klar. Sie hatten sich in den
Aufbaujahren der Nachkriegszeit nichts gegönnt außer
der sogenannten Freßwelle, und ihre Vergnügungen bestanden
im alljährlichen Auftrieb über Neckermann nach Italien
und später auch Spanien.
-
- Sie waren, durch die 50er Jahre
beeinflußt, unglaublich spießig und verklemmt. Sie
hatten (zumindest die meisten von ihnen) in den Kriegsjahren
gelernt, wie man hamstert, spart, nicht auffällt und sich
an alle Obrigkeit anpaßt. Ihre Ideale waren nicht, eine
gesellschaftspolitische Vision zu entwickeln, weil ihnen alles
Gesellschaftliche und Politische suspekt war. (Einige von ihnen
waren zumindest ernsthafte Antifaschisten, doch auch diese waren
Kinder der gleichen Moral.)
-
- Die meisten Menschen dieser
Generation wollten, zumindest war dies der in den Medien vertretene
Standart, persönlich im Rahmen der Marktwirtschaft so viel
wie möglich erreichen, Karrieren machen und uns zu unpolitischen
Karrieristen erziehen, die persönlichen Träume von
Erfüllung dem wirtschaftlichen Vorankommen unterwerfen.
Selbst wenn sie "nur" Arbeitnehmer in untergeordneter
Stellung waren, solide ihrer Arbeit nachgingen und es nicht zum
Eigenheim gebracht hatten, selbst dann wollte sie, daß
wir es einmal "besser" hätten als sie, daß
wir "Karriere" machen sollten. Damals war ein solches
Ansinnen auch oft von Erfolg belohnt, weil es in der Wirtschaft
voranging. War dies vielleicht auch der Grund unserer eigenen
wirtschaftlichen Sorglosigkeit?
- 5. Wirtschaftlichkeit als
Lebensziel?
Vor
allem wollten wir das nicht machen, was man "eine Karriere"
nannte, und von dem wir wußten, daß dies das Entsagen
von allen Träumen war, das Ausrichten der Intelligenz und
des Strebens auf den kleinen und großen Vorteil über
andere, und ansonsten alle sozialen, humanen, menschlichen, sensiblen
und sinnlichen Empfinden zu unterdrücken oder mit dem Beuteverhalten
zu kombinieren.
-
- Ich treffe heutzutage auf Menschen,
die sich ganz gut vorstellen können, Diener zu haben, die
sich vorstellen können,
-
- Menschen auch gegen deren Willen
zu ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen zu mißbrauchen,
die keine Skrupel haben, auf Kosten anderer "glücklich"
zu sein, wohlhabend zu sein usw.
-
- "Die Beute für Schwanz
und Magen", beschrieb Franz Josef Degenhard schon damals
das Bestreben solcher Menschen. Irgendein Sozialromantiker bin
ich wohl in ihren Augen und selber schuld.
-
- 6. Was ich noch heute vertrete
Herbert Marcuse einerseits
und Jean Paul Sartre andererseits beschrieben ein Szenario, in
dem der Mensch in einer gerechteren friedlichen Gesellschaft
mit ganz wenig Arbeit auskäme, um seinen erreichten
Standart zu halten, denn die Industrialisierung und die gerechte
Verteilung der knapper werdenden Arbeit würde uns bei der
fairen Verteilung der Arbeitserträge helfen.
-
- Die Menschheit, also wir, hätte
endlich die Gelegenheit, ihre Tugenden jenseits der Raffgier
zu entwickeln. Und wir verhielten uns in unseren Inseln, als
ob wir diese Ziele schon erreicht hätten. Wir waren wissensdurstig
und lernten alles, was uns in die Finger kam. Ich glaube, es
hat selten, vielleicht sogar noch nie eine Generation von Jugendlichen
so viel über soziale und zwischenmenschliche Probleme, gesellschaftliche
Strukturen und Auseinandersetzungen und menschliche Werte gelernt.
-
- Wir wollten lernen, wollten
uns Wissen nicht länger vorenthalten lassen. Im Theaterstück
"Leben des Galilei" von Brecht läßt dieser
den Papst über Galilei urteilen: "Er ist ein Mann des
Fleisches. Er kennt mehr Genüsse als irgendein Mann, den
ich getroffen habe. Er denk aus Sinnlichkeit. Zu einem alten
Wein oder einen neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen..."
Dies gibt, so meine ich, unsere damalige Haltung wieder, vielleicht
auch (im übertragenen Sinne) meine gegenwärtige Haltung.
-
- Deshalb bin ich auch immer wieder
erstaunt, daß heutzutage von vielen Menschen eher Esoterik
als Denken als lustvoll empfunden wird. Es muß mit den
Inhalten zu tun haben. Jugendliche sagen mir heute, daß
man nicht darüber nachdenken solle, sondern alles eher positiv
sehen solle, wenn es um gesellschaftspolitische Belange geht,
sonst könne man nur noch wahnsinnig werden. Es geht also
um das bewußte Wegsehen, sich stattdessen betäuben
wollen. Eine Alternative zu dem, was Jugendliche nicht sehen
wollen, können sie sich nicht vorstellen. Wir vielleicht?
Das Forschen und Analysieren
schob einige von uns unmerklich in höhere gesellschaftliche
Positionen, was allzuoft dazu führte, dann die erreichten
Posten zu verteidigen. Dies ging natürlich dann nur unter
Aufgabe der bisher vertretenen Werte. Die von ihnen ihre Werte
behalten haben, haben sie noch ihre Posten? Viele andere konnten
oder wollten sich nicht in Strukturen integrieren, die von ihnen
Selbstunterdrückung und Unterwerfung verlangten, sowie Grausamkeit
gegenüber anderen.
-
- Aus marktwirtschaftlicher Sicht
wurden sie das, was man brutal "Versager" nennt. Daß
sie kommen mußte, diese neue Gesellschaft mit den anderen
Werten, war uns klar. Denn was wäre denn die Alternative
dazu? Gäbe es einen anderen Weg für die Menschheit,
menschenwürdig zu leben?
-
- 7.
Was ich noch heute ablehne
Die Alternative dazu wäre doch die Raffgier der Menschen
gegeneinander gewesen. Jeder Mensch der Feind des anderen Menschen.
- Die Menschen, die gesellschaftlichen
Gruppen und die Staaten im gnadenlosen Kampf um die Befriedigung
einer immer größer werdenden Gier, alles zu besitzen
und zu beherrschen, während auf der anderen Seite Menschen
verhungern, ganze Völker keine Chance erhielten, Völkermord
stattfindet, Kriege Aufgebautes und Erarbeitetes vernichten.
-
- Die Denker und Philosophen der
anderen Seite würden begründen, dies sei dem Menschen
angeboren, es sei daher naturgemäß. So wollten wir
unter keinen Umständen leben.
-
- 8. Zwei Wege?
So standen uns die beiden
möglichen gesellschaftlichen Zukunftsentwürfe vor unseren
Augen. Und so waren es dann auch die Alternativen bei den Lebensentwürfen
im Beziehungsbereich von vielen von uns, denn auch hier sahen
wir es so, daß sich die gesellschaftliche Realität
auf das Zusammenleben der Menschen auswirkt. Beziehungen können
auf Dauer keine Inseln sein, der Einfluß der Wirtschaft
und Gesellschaft wirkt sich auch zwischen uns aus.
-
- Und wie wir letztlich miteinander
leben, wie wir in unseren Beziehungen miteinander
umgehen, das scheint mir das "eigentliche Leben" zu
sein.
-
- 9. Beziehungsentwürfe
Zuerst einmal lehnten
wir jeden Eigentumsanspruch auf einen Mitmenschen ab, wollten
keine "Schäfchen ins trockene bringen", billigten
auch keinem Menschen zu, für uns "Verantwortung"
zu übernehmen, weil dies einer Entmündigung gleichkäme.
Wir erlaubten niemanden, über irgend etwas von uns bestimmen
zu wollen, sei es über unsere Gedanken, unseren Körper,
unsere Empfindungen oder unsere sexuellen Neigungen.
Beziehungen wollten wir schon, aber eben nicht die Isolation
zu zweit und nicht mit dem Anspruch, daß ein einziger Mensch
alle Bedürfnisse erfüllen könne, seien es die
intellektuellen (man mag auch mal die Anregung durch ganz neue
Gedanken) oder die körperlich-sexuellen.
-
- 9.1. Die Kommune
Also kam die "Kommune"
auf, in der unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Geschlechts
und Alters zusammen liebten, lebten und arbeiteten. Nicht zu
vergessen die damalige "Kommune 1", deren Veröffentlichungen
über Beziehungsfragen und sexuelle Experimente Modellcharakter
für viele Versuchsteams anderer Kommunen und Wohngemeinschaften
auf diesem Gebiet hatten.
-
- Es ging auch um eine emanzipatorische
Kindererziehung, wo Kinder als gleichberechtigte Teile der Kommune
anzusehen waren, denen man nichts vormachen sollte, beispielsweise
Märchen über den Klapperstorch. Man wollte eine antiautoritäre
Erziehung verwirklichen, obwohl sie dann in Realität nahezu
nirgendwo stattfand, aber dafür in den konservativen Medien
um so lüsternder diskutiert wurden.
-
- Auch hier haben gesellschaftliche
Rahmenbedingungen das reale Umsetzen solcher Vorstellungen verhindert.
Deshalb ist es auch eine Unverschämtheit, wenn heute konservative
Politiker behaupten, daß die Neonazis das Produkt antiautoritär
erzogener Eltern seien, die ihren Kindern keine "Werte"
vermittelt hätten. Was die jungen Nazis vertreten, sind
doch die sattsam bekannten konservativen Werte, vertreten mit
entschlosseneren Mitteln.
9.2. Beziehungsnetz
Eine andere Vorstellung waren Beziehungsnetze. Weil man nicht
nur solche Menschen anregend empfand und erotisch begehrte, mit
denen man zusammenwohnen konnte, man sich jedoch unterschiedlich
intensiv auch von anderen Menschen angezogen fühlt, bot
sich dieses Modell an.
-
- Jeder Mensch ist Mittelpunkt
seines Beziehungsnetzes, jeder Mensch hat sein eigenes Netz um
sich. Die PartnerInnen sind unterschiedlich dicht bei ihm in
die Maschen eingeknüpft. Jeder Mensch hat nur "Anspruch"
auf den Teil des anderen, den dieser uns auch schenkt.
Ich glaube, daß dies das Modell ist, das die meisten Menschen
praktizieren, obwohl sie das nicht so sehen (können oder
wollen), so lange sie noch nach außen (und oft auch vor
sich selbst) das monogame Paar darstellen. Und der gelegentliche
oder häufige Seitensprung, mögliche ergänzende
Prostitutons-Begegnungen usw. werden nicht als Teil dieses Beziehungsmodells
angesehen, sondern verdrängt, obwohl sie das monogame Beziehungsmodell
erst lebensfähig halten.. Hier käme es also darauf
an, zu dem stehen zu können, was man tut und/oder sich erträumt,
was leichter fiele, wenn dies nicht verlogen als Unmoral diskriminiert
würde.
-
- 9.3. Die monogame Ehe
Die vorübergehende
Verliebtheit und das länger andauernde Gefühl gegenseitiger
Verbindlichkeit sind nicht an dieses Eifersuchtsmodell der Ehe
gebunden. Monogame Beziehungen sind die Norm der Gesellschaft.
Sie stellen einen Teil des gegenseitigen Kontrollmodells dar,
werden in nahezu allen Medien gelobt.
-
- Die Versuche, anders zusammenzuleben,
werden lächerlich gemacht oder negativ dargestellt, wie
man in den Medien die Homosexualität vor noch nicht so langer
Zeit nur lächerlich und negativ darstellte.
- Die monogamen Zweierbeziehungen
sind genauso hierarchisch, wie die gesellschaftliche Ordnung,
wo auch ein Mensch über andere verfügt
und man vorgibt, daß dies aus Freiwilligkeit geschieht.
-
- "Du kannst ja gehen, wenn
es Dir nicht paßt", heißt es in der Beziehung
und am Arbeitsplatz. Gleichzeitig wird mit der Heiligsprechung
der Eifersucht das gegenseitige Überwachen und Kontrollieren
in die Beziehung positioniert.
-
- Auch auf die Teile meiner Sexualität,
die ich nur mit anderen Menschen ausleben kann oder will, wird
Anspruch erhoben. Wenn der Hang zum gegenseitigen Überwachen
nicht da ist, wird sogar unterstellt, daß die Liebe fehle,
was vollkommen falsch ist. Denn wenn ich einen Menschen wirklich
liebe, muß ich ihn dann nicht auch mit seinen Sehnsüchten
nach anderen Menschen lieben?
-
- Und warum soll er nicht solche
Sexualität mit anderen teilen, die mir ohnehin nicht sonderlich
liegt? Oder muß ich eine Sexualität durch meinen Partner
erdulden, die ich nicht mag, weil ich ihn liebe? Muß er
generell darauf verzichten, wozu ich nicht bereit bin?
-
- Männern wird ja der "Seitensprung"
augenzwinkernd immer mal verziehen. Es sei ja nur ein vergängliches
Haut-Reiben, wird argumentiert. Das stimmt ja auch, es wird nur
mehr, wenn es fehlt. Nur für Frauen ist es absolut anrüchig,
nebenbei Sex zu haben, und hier wird mit dem Urteil, sie würden
sich wie Huren verhalten, Druck ausgeübt.
-
- Diese Doppelmoral der Gesellschaft
ist auch in anderer Weise Teil der Beziehungen. Sie werden nämlich
einerseits durch den Prostitutionsmarkt und andererseits durch
sogenannte Seitensprünge ergänzt und damit als Modell
für eine gewisse Dauer erst möglich. Nicht nur das
Bahnhofsviertel und zahlreiche Romane, Serien, Filme usw. belegen
dies. (Ja ja, ich weiß, Du bist die Ausnahme, die wirklich
das ist, was landläufig "treu" genannt wird, mit
Ausnahme dieser wenigen Male...)
Und genau das war unser Anliegen damals, daß wir uns nicht
zugunsten irgendwelcher verlogener Moralisten gegenseitig eifersüchtig
überwachen und gegenseitig belügen wollten, daß
uns die Lust zur Lust und nicht zum Frust wird. Und weil man
homosexuelle Beziehungen gesellschaftlich genauso ächtete
wie z.B. Menschen mit dem Prostitutionsberuf, hatten wir die
Hoffnung, daß wir unter uns Schwulen unsere eigenen Modelle
entwickeln könnten, die etwas näher an dem waren, was
man "Lebensqualität" nennen kann.
-
- 10. Wahlmöglichkeiten
Wenn man sich gemäß
der Vorurteile der Gesellschaft verhält, kann man sich natürlich
beim Suchen nach Partnern, also beim Anmachen, besser verständlich
machen. Also geben alle vor, die große eine wahre Beziehung
zu suchen, und sie versuchen auch, daran zu glauben. Und der
mögliche Partner sei absolut einmalig, was dessen Eitelkeit
schmeichelt.
-
- Wenn man es besser oder anders
machen will, dann benötigt man Menschen, die es auch besser
oder anders versuchen wollen (weil man sonst schlicht alleine
ist), und das ist natürlich besonders dann schwierig, wenn
schon das normale Anmachen schwierig ist.
Wenn man dann noch auf Menschen mit der Moral der Beutesucher
trifft, sehen diese im Werben für ehrlichere und vielleicht
bessere Beziehungen nur Beutetricks. Jeder bewertet eben entsprechend
seiner Normen. Menschen, die in Sexualität etwas nur im
Rahmen bestimmter Strukturen Erlaubtes sehen, halten sexuelle
Experimente für Schweinerei. Leute, die sich den Normen
mehr oder weniger erfolgreich angepaßt haben, möchten
die Unangepaßten am liebsten vom Erdboden vertilgen. Unangepaßte
sind für die Angepaßten eine ständige Provokation.
Jeder projiziert seine Verklemmungen und Absichten in Form von
Unterstellungen oder Phantasien in deren Verhalten.
Heutzutage denken besonders die jungen Menschen nicht mehr so
sehr über ihre Lebensentwürfe nach. Sie wollen auch
nicht über so etwas Unerfreuliches wie Moral nachdenken,
wollen nach ihrer eigenen Moral leben und einfach erleben, was
ihnen möglich ist. Ein Rollenkonflikt entsteht beim Coming
out nicht mehr, da man als "Mann" (als Frau) schwul
(lesbisch) sein kann. Sie glauben, daß das Erfüllen
der Wünsche eben am besten in einer festen Beziehung geht,
besonders, wenn sie selbst noch keine erotische Beziehung erlebt
haben.
-
- Etwas anderes auszuprobieren
ist ihnen genauso überflüssig, beschwerlich und lästig,
wie über Moral nachzudenken. Und sie erkennen nicht, daß
es um keine Wahlfreiheit geht, sondern um das Wiederherstellen
konservativer Werte. Schlechte Konjunktur also für Moralvorstellungen,
die der gegenwärtigen schleichenden Moralisierung nicht
entsprechen. Schlechte Konjunktur für andere Lebensentwürfe
als den überall vorgestellten. Aber ich habe nicht die Absicht,
mich damit zufriedenzugeben.
-
- 11. Geläuterte Lebensentwürfe?
Auch wenn meine politischen
und zwischenmenschlichen Moralbegriffe für viele besonders
junge Menschen nicht akzeptabel sind, ich halte sie dennoch für
richtig. Es muß ja auch nicht so sein, daß sich Mehrheiten
immer auf der richtigen Fährte befinden.
-
- Ich stelle meine Sehnsüchte
nach einem menschlichen, sozial gerechten Zustand der Gesellschaft
ohne Macht des Menschen über andere Menschen nicht als Illusion
oder Utopie in mein privates historisches Museum, sondern strebe
noch immer danach, sowohl privat
als auch gesellschaftlich (politisch) solche Sehnsüchte
zu befriedigen.
-
- Es wäre heutzutage auch
wichtiger als damals, sich für die humanitären 68er
Werte einzusetzen, denn es droht ja wirklich die Vernichtung
der Mitmenschlichkeit zugunsten individueller hilfloser Versuche,
auf anderer Leute Kosten kleine oder größere Vorteile
zu erhalten.
-
- Solche Versuchen nutzen zunehmend
nicht einmal denen, die sie anwenden. Sie tragen aber dazu bei,
die Gegensätze zwischen dem Oben der Millionäre mit
ihrer verordneten Moral für die Kleinen und dem Unten der
(vorübergehenden) Arbeitnehmer-Innen und Arbeitslosen voranzutreiben,
mit ihrer Moral für die Millionäre. Sie erledigen deren
Arbeit.
Ich habe mich mit einem Zeitgeist auseinanderzusetzen, der mit
der Erpressung des Verlustes des Arbeitsplatzes und somit der
wirtschaftlichen Lebensgrundlage die "Ideale" des skrupellosen
"Jedes-gegen-Jeden" alle warmen Bestrebungen der Menschen
in den Hintergrund drängt.
-
- Natürlich finden sich nun
Menschen, die sich eine bessere Ausgangssituation bei der sexuellen
Beutesuche oder im wirtschaftlichen Bereich davon versprechen,
entweder meine schwulen-politische Arbeit beschädigen zu
wollen oder mich als Person anzugreifen. Vielleicht machen sie
es aber auch, weil sie es nicht anders gelernt haben. Andererseits
gibt es auch ermutigende Zeichen des Infragestellens solcher
trüber Machenschaften mitsamt der Ideologie, die dahinter
steckt.
Ich erlebe in meinem Umfeld sehr viel menschliche Wärme
auch von jungen Freunden. Dies könnte auf die Morgenröte,
auf einen Frühlinghauch einer menschlichen warmen Gegenkultur
hindeuten. Ich hoffe es zumindest.
-
- Zu den Fotografien
Da ich gar keine Fotos
aus der sogenannten APO-Zeit habe (wir hattens nicht so mit dem
Dokumentieren), habe ich auf Biographisches zurückgegriffen.
1. Foto: mein erstes Nacktfoto. 2. Foto (mit Interesse
stelle ich fest, daß heute manche Jugendlichen wieder so
aussehen): ich mit ca. 18 Jahren. 3. Foto: mein
2. Nacktfoto, ich mit 18 Jahren. 4. Foto: meine langjährige
(lesbische) Lebenspartnerin mit mir, ich bin da ca. 40 Jahre
alt. Wir sind noch immer zusammen, warum auch nicht? 5. Foto:
mit Herwig, meinem ersten (längeren) schwulen Freund, der
mir viel beigebracht hat. Er war wohl mein Coming-out-Helfer.
6. Foto: mein Führerscheinfoto, ich war dort ein
linker (schwuler) Mann von 32 Jahren. 7. Foto: im Gespräch
mit Freund Egmont vom Verlag rosa Winkel. 8. Foto: mit
meinem langjährigen und gegenwärtigen Lebenspartner
Thomas. 9. Foto, das linke lesbisch-schwule Ehepaar, statt
Gartenzwerge etwas Ähnliches. Das war noch bevor ich meinen
heutigen Partner kennenlernte. 10. Foto: Ingo Taubhorns Fotoarbeit mit und von
mir.
- (Joachim
Schönert)
- *