Lebensträume und Lebensentwürfe
Wie würde ich mir mein Leben einrichten wollen, wenn ich frei wäre, mir ohne pessimistische Denkhemmung einfach ein Modell auszudenken? Und wenn ich dann alles daransetzen würde, dieses Modell zu verwirklichen, würde meine Kraft und die meiner Freunde ausreichen, es zu verwirklichen? Falls mein Modell verwirklicht werden könnte, würde ich mich wirklich darin wohl fühlen können?
 
Die Idee, einen Entwurf von seinem Leben zu machen, hat nicht jeder Mensch. Als Kind und Jugendlicher war mir klar, daß ich einmal heiraten, Kinder haben werde, später in geordnete Rente gehen werde. Ich habe mir sogar Szenen aus meinem häuslichen Familienleben gemerkt, um an ihnen später einmal überprüfen zu können, ob sich alles wiederholt. In solche konservative rückwärts gerichtete Vorstellungen platzte die Scheidung meiner Eltern.
 
Meine Lehre, meine Berufsarbeit, meine Bundeswehrzeit und meine Zeit am Abendgymnasium ließen solche Gedanken nicht mehr zu. Es kamen die sogenannten 68er Jahre, und nun empfand ich mich und die Umwelt voller schöner neuer Möglichkeiten. Ich leistete selbstverständlich meine tägliche Berufsarbeit, sorgte mich jedoch nicht sonderlich um die persönliche Zukunft in dieser Gesellschaft.
 
Aber ich arbeitete mit, wie ich meinte, an einer besseren gesellschaftlichen Zukunft. Interessant ist vielleicht, daß das Formale, was wir uns für die bessere neue Gesellschaft erarbeiteten, heute (1998) mit konservativen Inhalten angereichert, das ist, was gesellschaftlich erwartet wird: Teamfähigkeit, Eigenverantwortlichkeit, Ganzheitlichkeit sowie Handlungsorientiertheit.

Früher verteidigten konservative Menschen den Individualismus gegen "den Kollektivismus" der Linken und meinten damit ihre Freiheit, zugunsten eigener Vorteile gegen andere anzutreten. Unter den heutigen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gilt der Individualismus als eine linke Verweigerungshaltung gegenüber den Verhaltensmustern, die nun in der Wirtschaft und dem Staat erwartet werden.

 

1. Gesellschaftspolitisches Coming-out
I
rgendwelche Vorstellungen von einem persönlichen Lebensentwurf zu entwickeln, das empfanden wir als spießig und verstaubt, das erinnere an den Kinderglauben, meinten wir, wo das Leben, das wir doch nun als eine riesige Summe von Möglichkeiten empfanden, eingeengt und vorstrukturiert war.
 
In diese Zeit platzte dann auch noch mein Coming-out. Ich war der Linke unter den Schwulen, wehrte mich hier gegen hier vorherrschende konservative gesellschaftspolitische Vorstellungen und den ängstlichen Rückzug in die plüschige Subkultur.
 
Ich war der Schwule unter den Linken und wehrte mich hier gegen das oftmals allzu unkritisch übernommene Geschlechtsrollenmodell. Im Gegenteil wurde später, als die sogenannten K-Gruppen nach und nach an die Stelle der spontanen Zusammenschlüssen traten, mit dem Prädikat "proletarische Moral" eine Spießigkeit gerade unter Linken vorangetrieben, die sich kaum von dem unterschied, was wir schon aus anderen Zusammenhängen kannten. Lese hierzu auch "Saubere Mädel und starke Genossen", was im rosa Winkel Verlag Berlin erschienen ist.
 
Man sollte nicht vergessen, daß die K-Gruppen-orientierten Linksintellektuellen in ihrem manchmal schon lächerlich anmutenden Proletkult nicht deshalb links waren, weil sie das Leiden der Proletariats verspürten, sondern weil ihnen die Ausbeutung der Arbeiterklasse unmoralisch erschien (erscheint). Sie sind (waren) Moralisten und für moralische Ansprachen empfänglich.
 
2. Erste Entmutigungen
Die neue Zeit trat nicht ein, Illusionen zeigten sich als solche, aber vieles wollten viele von uns nicht einfach aufgeben, was wir als 68er Linke als angenehm und inhaltlich richtig empfunden haben, denn andere glaubwürdige gesellschaftliche Werte waren auch nicht in Sicht. Im Gegenteil. Es gab nur Doppelmoral und lediglich die Geilheit, sich auf anderer Menschen Kosten zu bereichern und profilieren, was jede soziale Verantwortung ausschließt.
 
Heute hört man bisweilen Äußerungen von Leuten, die behaupten, damals auch dabei gewesen zu sein. Sie hätten unterdessen aber ihre Fehler eingesehen. Da frage ich mich doch, ob sie nicht in Wirklichkeit schon damals zum Beispiel als Mitglieder der Jungen Union Adressen von 68er gesammelt haben, denn nicht alle, die damals an den Auseinandersetzungen teilgenommen haben, haben alles verstanden und haben bei den Auseinadersetzungen dies auf unserer Seite getan.

Unsere Alternativen versuchten wir im täglichen Leben zu verwirklichen, wenn nicht im Berufsleben, dann doch wenigstens zu Hause. Es zeigte sich nun aber auch, daß die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen uns auch privat keinen allzu großen Spielraum ließen.
 
Unser Leben, wie wir es erträumten, paßte weder in den sozialen Wohnungsbau, der damals noch existierte, noch in den vorhandenen Arbeitsmarkt, fand weder bei Verwaltungen noch an Stammtischen Verständnis.
 
Wir empfanden den Zwang, den andere nicht empfanden, deren Lebensvorstellungen in den vorhandenen Rahmen paßten.
 
So blieben von unseren Träumen des freien und gleichzeitig geborgenen zusammen Lebens, zusammen Liebens und des zusammen Arbeitens doch nur mehr oder weniger konsequent ausformulierte oder durchdachte Entwürfe.
 
3. Kurze Analysen
Wie soll mein Leben wirklich sein? Wie will ich wirklich leben? "Seid Realisten, verlangt das Unmögliche", hieß einer unserer optimistischen Sprüche. Gäbe es nicht die Zwänge, die uns hindern, wie wollten wir wirklich leben?
 
Und müssen diese Zwänge sein? Sind sie wie unabänderliche Naturgesetze oder in Wirklichkeit gesellschaftlicher Natur und somit zum Nutzen einiger Weniger eingerichtet worden und infolgedessen auch gesellschaftlich zu bekämpfen? Kann man solchen Zwängen Widerstand leisten? Das ginge, indem solche Strukturen bekämpft würden, die es den Nutznießern ermöglichen, von diesen Zwängen zu profitieren, wußten wir. Haben wir letztlich genügend Ausdauer und können wir deshalb solche Zwänge beseitigen?
 
4. Die Tugenden der 50er
So wie unsere Eltern (und die Eltern der anderen linken Studenten und bewegten Jugendlichen) wollten wir nicht sein, das war klar. Sie hatten sich in den Aufbaujahren der Nachkriegszeit nichts gegönnt außer der sogenannten Freßwelle, und ihre Vergnügungen bestanden im alljährlichen Auftrieb über Neckermann nach Italien und später auch Spanien.
 
Sie waren, durch die 50er Jahre beeinflußt, unglaublich spießig und verklemmt. Sie hatten (zumindest die meisten von ihnen) in den Kriegsjahren gelernt, wie man hamstert, spart, nicht auffällt und sich an alle Obrigkeit anpaßt. Ihre Ideale waren nicht, eine gesellschaftspolitische Vision zu entwickeln, weil ihnen alles Gesellschaftliche und Politische suspekt war. (Einige von ihnen waren zumindest ernsthafte Antifaschisten, doch auch diese waren Kinder der gleichen Moral.)
 
Die meisten Menschen dieser Generation wollten, zumindest war dies der in den Medien vertretene Standart, persönlich im Rahmen der Marktwirtschaft so viel wie möglich erreichen, Karrieren machen und uns zu unpolitischen Karrieristen erziehen, die persönlichen Träume von Erfüllung dem wirtschaftlichen Vorankommen unterwerfen. Selbst wenn sie "nur" Arbeitnehmer in untergeordneter Stellung waren, solide ihrer Arbeit nachgingen und es nicht zum Eigenheim gebracht hatten, selbst dann wollte sie, daß wir es einmal "besser" hätten als sie, daß wir "Karriere" machen sollten. Damals war ein solches Ansinnen auch oft von Erfolg belohnt, weil es in der Wirtschaft voranging. War dies vielleicht auch der Grund unserer eigenen wirtschaftlichen Sorglosigkeit?
5. Wirtschaftlichkeit als Lebensziel?
Vor allem wollten wir das nicht machen, was man "eine Karriere" nannte, und von dem wir wußten, daß dies das Entsagen von allen Träumen war, das Ausrichten der Intelligenz und des Strebens auf den kleinen und großen Vorteil über andere, und ansonsten alle sozialen, humanen, menschlichen, sensiblen und sinnlichen Empfinden zu unterdrücken oder mit dem Beuteverhalten zu kombinieren.
 
Ich treffe heutzutage auf Menschen, die sich ganz gut vorstellen können, Diener zu haben, die sich vorstellen können,
 
Menschen auch gegen deren Willen zu ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen zu mißbrauchen, die keine Skrupel haben, auf Kosten anderer "glücklich" zu sein, wohlhabend zu sein usw.
 
"Die Beute für Schwanz und Magen", beschrieb Franz Josef Degenhard schon damals das Bestreben solcher Menschen. Irgendein Sozialromantiker bin ich wohl in ihren Augen und selber schuld.
 
6. Was ich noch heute vertrete
Herbert Marcuse einerseits und Jean Paul Sartre andererseits beschrieben ein Szenario, in dem der Mensch in einer gerechteren friedlichen Gesellschaft mit ganz wenig Arbeit auskäme, um seinen erreichten Standart zu halten, denn die Industrialisierung und die gerechte Verteilung der knapper werdenden Arbeit würde uns bei der fairen Verteilung der Arbeitserträge helfen.
 
Die Menschheit, also wir, hätte endlich die Gelegenheit, ihre Tugenden jenseits der Raffgier zu entwickeln. Und wir verhielten uns in unseren Inseln, als ob wir diese Ziele schon erreicht hätten. Wir waren wissensdurstig und lernten alles, was uns in die Finger kam. Ich glaube, es hat selten, vielleicht sogar noch nie eine Generation von Jugendlichen so viel über soziale und zwischenmenschliche Probleme, gesellschaftliche Strukturen und Auseinandersetzungen und menschliche Werte gelernt.
 
Wir wollten lernen, wollten uns Wissen nicht länger vorenthalten lassen. Im Theaterstück "Leben des Galilei" von Brecht läßt dieser den Papst über Galilei urteilen: "Er ist ein Mann des Fleisches. Er kennt mehr Genüsse als irgendein Mann, den ich getroffen habe. Er denk aus Sinnlichkeit. Zu einem alten Wein oder einen neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen..." Dies gibt, so meine ich, unsere damalige Haltung wieder, vielleicht auch (im übertragenen Sinne) meine gegenwärtige Haltung.
 
Deshalb bin ich auch immer wieder erstaunt, daß heutzutage von vielen Menschen eher Esoterik als Denken als lustvoll empfunden wird. Es muß mit den Inhalten zu tun haben. Jugendliche sagen mir heute, daß man nicht darüber nachdenken solle, sondern alles eher positiv sehen solle, wenn es um gesellschaftspolitische Belange geht, sonst könne man nur noch wahnsinnig werden. Es geht also um das bewußte Wegsehen, sich stattdessen betäuben wollen. Eine Alternative zu dem, was Jugendliche nicht sehen wollen, können sie sich nicht vorstellen. Wir vielleicht?

Das Forschen und Analysieren schob einige von uns unmerklich in höhere gesellschaftliche Positionen, was allzuoft dazu führte, dann die erreichten Posten zu verteidigen. Dies ging natürlich dann nur unter Aufgabe der bisher vertretenen Werte. Die von ihnen ihre Werte behalten haben, haben sie noch ihre Posten? Viele andere konnten oder wollten sich nicht in Strukturen integrieren, die von ihnen Selbstunterdrückung und Unterwerfung verlangten, sowie Grausamkeit gegenüber anderen.
 
Aus marktwirtschaftlicher Sicht wurden sie das, was man brutal "Versager" nennt. Daß sie kommen mußte, diese neue Gesellschaft mit den anderen Werten, war uns klar. Denn was wäre denn die Alternative dazu? Gäbe es einen anderen Weg für die Menschheit, menschenwürdig zu leben?
 
7. Was ich noch heute ablehne
Die Alternative dazu wäre doch die Raffgier der Menschen gegeneinander gewesen. Jeder Mensch der Feind des anderen Menschen.
Die Menschen, die gesellschaftlichen Gruppen und die Staaten im gnadenlosen Kampf um die Befriedigung einer immer größer werdenden Gier, alles zu besitzen und zu beherrschen, während auf der anderen Seite Menschen verhungern, ganze Völker keine Chance erhielten, Völkermord stattfindet, Kriege Aufgebautes und Erarbeitetes vernichten.
 
Die Denker und Philosophen der anderen Seite würden begründen, dies sei dem Menschen angeboren, es sei daher naturgemäß. So wollten wir unter keinen Umständen leben.
 
8. Zwei Wege?
So standen uns die beiden möglichen gesellschaftlichen Zukunftsentwürfe vor unseren Augen. Und so waren es dann auch die Alternativen bei den Lebensentwürfen im Beziehungsbereich von vielen von uns, denn auch hier sahen wir es so, daß sich die gesellschaftliche Realität auf das Zusammenleben der Menschen auswirkt. Beziehungen können auf Dauer keine Inseln sein, der Einfluß der Wirtschaft und Gesellschaft wirkt sich auch zwischen uns aus.
 
Und wie wir letztlich miteinander leben, wie wir in unseren Beziehungen miteinander umgehen, das scheint mir das "eigentliche Leben" zu sein.
 
9. Beziehungsentwürfe
Zuerst einmal lehnten wir jeden Eigentumsanspruch auf einen Mitmenschen ab, wollten keine "Schäfchen ins trockene bringen", billigten auch keinem Menschen zu, für uns "Verantwortung" zu übernehmen, weil dies einer Entmündigung gleichkäme. Wir erlaubten niemanden, über irgend etwas von uns bestimmen zu wollen, sei es über unsere Gedanken, unseren Körper, unsere Empfindungen oder unsere sexuellen Neigungen.

Beziehungen wollten wir schon, aber eben nicht die Isolation zu zweit und nicht mit dem Anspruch, daß ein einziger Mensch alle Bedürfnisse erfüllen könne, seien es die intellektuellen (man mag auch mal die Anregung durch ganz neue Gedanken) oder die körperlich-sexuellen.
 
9.1. Die Kommune
Also kam die "Kommune" auf, in der unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters zusammen liebten, lebten und arbeiteten. Nicht zu vergessen die damalige "Kommune 1", deren Veröffentlichungen über Beziehungsfragen und sexuelle Experimente Modellcharakter für viele Versuchsteams anderer Kommunen und Wohngemeinschaften auf diesem Gebiet hatten.
 
Es ging auch um eine emanzipatorische Kindererziehung, wo Kinder als gleichberechtigte Teile der Kommune anzusehen waren, denen man nichts vormachen sollte, beispielsweise Märchen über den Klapperstorch. Man wollte eine antiautoritäre Erziehung verwirklichen, obwohl sie dann in Realität nahezu nirgendwo stattfand, aber dafür in den konservativen Medien um so lüsternder diskutiert wurden.
 
Auch hier haben gesellschaftliche Rahmenbedingungen das reale Umsetzen solcher Vorstellungen verhindert. Deshalb ist es auch eine Unverschämtheit, wenn heute konservative Politiker behaupten, daß die Neonazis das Produkt antiautoritär erzogener Eltern seien, die ihren Kindern keine "Werte" vermittelt hätten. Was die jungen Nazis vertreten, sind doch die sattsam bekannten konservativen Werte, vertreten mit entschlosseneren Mitteln.

9.2. Beziehungsnetz
Eine andere Vorstellung waren Beziehungsnetze. Weil man nicht nur solche Menschen anregend empfand und erotisch begehrte, mit denen man zusammenwohnen konnte, man sich jedoch unterschiedlich intensiv auch von anderen Menschen angezogen fühlt, bot sich dieses Modell an.
 
Jeder Mensch ist Mittelpunkt seines Beziehungsnetzes, jeder Mensch hat sein eigenes Netz um sich. Die PartnerInnen sind unterschiedlich dicht bei ihm in die Maschen eingeknüpft. Jeder Mensch hat nur "Anspruch" auf den Teil des anderen, den dieser uns auch schenkt.

Ich glaube, daß dies das Modell ist, das die meisten Menschen praktizieren, obwohl sie das nicht so sehen (können oder wollen), so lange sie noch nach außen (und oft auch vor sich selbst) das monogame Paar darstellen. Und der gelegentliche oder häufige Seitensprung, mögliche ergänzende Prostitutons-Begegnungen usw. werden nicht als Teil dieses Beziehungsmodells angesehen, sondern verdrängt, obwohl sie das monogame Beziehungsmodell erst lebensfähig halten.. Hier käme es also darauf an, zu dem stehen zu können, was man tut und/oder sich erträumt, was leichter fiele, wenn dies nicht verlogen als Unmoral diskriminiert würde.
 
9.3. Die monogame Ehe
Die vorübergehende Verliebtheit und das länger andauernde Gefühl gegenseitiger Verbindlichkeit sind nicht an dieses Eifersuchtsmodell der Ehe gebunden. Monogame Beziehungen sind die Norm der Gesellschaft. Sie stellen einen Teil des gegenseitigen Kontrollmodells dar, werden in nahezu allen Medien gelobt.
 
Die Versuche, anders zusammenzuleben, werden lächerlich gemacht oder negativ dargestellt, wie man in den Medien die Homosexualität vor noch nicht so langer Zeit nur lächerlich und negativ darstellte.
Die monogamen Zweierbeziehungen sind genauso hierarchisch, wie die gesellschaftliche Ordnung, wo auch ein Mensch über andere verfügt und man vorgibt, daß dies aus Freiwilligkeit geschieht.
 
"Du kannst ja gehen, wenn es Dir nicht paßt", heißt es in der Beziehung und am Arbeitsplatz. Gleichzeitig wird mit der Heiligsprechung der Eifersucht das gegenseitige Überwachen und Kontrollieren in die Beziehung positioniert.
 
Auch auf die Teile meiner Sexualität, die ich nur mit anderen Menschen ausleben kann oder will, wird Anspruch erhoben. Wenn der Hang zum gegenseitigen Überwachen nicht da ist, wird sogar unterstellt, daß die Liebe fehle, was vollkommen falsch ist. Denn wenn ich einen Menschen wirklich liebe, muß ich ihn dann nicht auch mit seinen Sehnsüchten nach anderen Menschen lieben?
 
Und warum soll er nicht solche Sexualität mit anderen teilen, die mir ohnehin nicht sonderlich liegt? Oder muß ich eine Sexualität durch meinen Partner erdulden, die ich nicht mag, weil ich ihn liebe? Muß er generell darauf verzichten, wozu ich nicht bereit bin?
 
Männern wird ja der "Seitensprung" augenzwinkernd immer mal verziehen. Es sei ja nur ein vergängliches Haut-Reiben, wird argumentiert. Das stimmt ja auch, es wird nur mehr, wenn es fehlt. Nur für Frauen ist es absolut anrüchig, nebenbei Sex zu haben, und hier wird mit dem Urteil, sie würden sich wie Huren verhalten, Druck ausgeübt.
 
Diese Doppelmoral der Gesellschaft ist auch in anderer Weise Teil der Beziehungen. Sie werden nämlich einerseits durch den Prostitutionsmarkt und andererseits durch sogenannte Seitensprünge ergänzt und damit als Modell für eine gewisse Dauer erst möglich. Nicht nur das Bahnhofsviertel und zahlreiche Romane, Serien, Filme usw. belegen dies. (Ja ja, ich weiß, Du bist die Ausnahme, die wirklich das ist, was landläufig "treu" genannt wird, mit Ausnahme dieser wenigen Male...)

Und genau das war unser Anliegen damals, daß wir uns nicht zugunsten irgendwelcher verlogener Moralisten gegenseitig eifersüchtig überwachen und gegenseitig belügen wollten, daß uns die Lust zur Lust und nicht zum Frust wird. Und weil man homosexuelle Beziehungen gesellschaftlich genauso ächtete wie z.B. Menschen mit dem Prostitutionsberuf, hatten wir die Hoffnung, daß wir unter uns Schwulen unsere eigenen Modelle entwickeln könnten, die etwas näher an dem waren, was man "Lebensqualität" nennen kann.
 
10. Wahlmöglichkeiten
Wenn man sich gemäß der Vorurteile der Gesellschaft verhält, kann man sich natürlich beim Suchen nach Partnern, also beim Anmachen, besser verständlich machen. Also geben alle vor, die große eine wahre Beziehung zu suchen, und sie versuchen auch, daran zu glauben. Und der mögliche Partner sei absolut einmalig, was dessen Eitelkeit schmeichelt.
 
Wenn man es besser oder anders machen will, dann benötigt man Menschen, die es auch besser oder anders versuchen wollen (weil man sonst schlicht alleine ist), und das ist natürlich besonders dann schwierig, wenn schon das normale Anmachen schwierig ist.

Wenn man dann noch auf Menschen mit der Moral der Beutesucher trifft, sehen diese im Werben für ehrlichere und vielleicht bessere Beziehungen nur Beutetricks. Jeder bewertet eben entsprechend seiner Normen. Menschen, die in Sexualität etwas nur im Rahmen bestimmter Strukturen Erlaubtes sehen, halten sexuelle Experimente für Schweinerei. Leute, die sich den Normen mehr oder weniger erfolgreich angepaßt haben, möchten die Unangepaßten am liebsten vom Erdboden vertilgen. Unangepaßte sind für die Angepaßten eine ständige Provokation. Jeder projiziert seine Verklemmungen und Absichten in Form von Unterstellungen oder Phantasien in deren Verhalten.

Heutzutage denken besonders die jungen Menschen nicht mehr so sehr über ihre Lebensentwürfe nach. Sie wollen auch nicht über so etwas Unerfreuliches wie Moral nachdenken, wollen nach ihrer eigenen Moral leben und einfach erleben, was ihnen möglich ist. Ein Rollenkonflikt entsteht beim Coming out nicht mehr, da man als "Mann" (als Frau) schwul (lesbisch) sein kann. Sie glauben, daß das Erfüllen der Wünsche eben am besten in einer festen Beziehung geht, besonders, wenn sie selbst noch keine erotische Beziehung erlebt haben.
 
Etwas anderes auszuprobieren ist ihnen genauso überflüssig, beschwerlich und lästig, wie über Moral nachzudenken. Und sie erkennen nicht, daß es um keine Wahlfreiheit geht, sondern um das Wiederherstellen konservativer Werte. Schlechte Konjunktur also für Moralvorstellungen, die der gegenwärtigen schleichenden Moralisierung nicht entsprechen. Schlechte Konjunktur für andere Lebensentwürfe als den überall vorgestellten. Aber ich habe nicht die Absicht, mich damit zufriedenzugeben.
 
11. Geläuterte Lebensentwürfe?
Auch wenn meine politischen und zwischenmenschlichen Moralbegriffe für viele besonders junge Menschen nicht akzeptabel sind, ich halte sie dennoch für richtig. Es muß ja auch nicht so sein, daß sich Mehrheiten immer auf der richtigen Fährte befinden.
 
Ich stelle meine Sehnsüchte nach einem menschlichen, sozial gerechten Zustand der Gesellschaft ohne Macht des Menschen über andere Menschen nicht als Illusion oder Utopie in mein privates historisches Museum, sondern strebe noch immer danach, sowohl privat als auch gesellschaftlich (politisch) solche Sehnsüchte zu befriedigen.
 
Es wäre heutzutage auch wichtiger als damals, sich für die humanitären 68er Werte einzusetzen, denn es droht ja wirklich die Vernichtung der Mitmenschlichkeit zugunsten individueller hilfloser Versuche, auf anderer Leute Kosten kleine oder größere Vorteile zu erhalten.
 
Solche Versuchen nutzen zunehmend nicht einmal denen, die sie anwenden. Sie tragen aber dazu bei, die Gegensätze zwischen dem Oben der Millionäre mit ihrer verordneten Moral für die Kleinen und dem Unten der (vorübergehenden) Arbeitnehmer-Innen und Arbeitslosen voranzutreiben, mit ihrer Moral für die Millionäre. Sie erledigen deren Arbeit.

Ich habe mich mit einem Zeitgeist auseinanderzusetzen, der mit der Erpressung des Verlustes des Arbeitsplatzes und somit der wirtschaftlichen Lebensgrundlage die "Ideale" des skrupellosen "Jedes-gegen-Jeden" alle warmen Bestrebungen der Menschen in den Hintergrund drängt.
 
Natürlich finden sich nun Menschen, die sich eine bessere Ausgangssituation bei der sexuellen Beutesuche oder im wirtschaftlichen Bereich davon versprechen, entweder meine schwulen-politische Arbeit beschädigen zu wollen oder mich als Person anzugreifen. Vielleicht machen sie es aber auch, weil sie es nicht anders gelernt haben. Andererseits gibt es auch ermutigende Zeichen des Infragestellens solcher trüber Machenschaften mitsamt der Ideologie, die dahinter steckt.

Ich erlebe in meinem Umfeld sehr viel menschliche Wärme auch von jungen Freunden. Dies könnte auf die Morgenröte, auf einen Frühlinghauch einer menschlichen warmen Gegenkultur hindeuten. Ich hoffe es zumindest.
 
Zu den Fotografien
Da ich gar keine Fotos aus der sogenannten APO-Zeit habe (wir hattens nicht so mit dem Dokumentieren), habe ich auf Biographisches zurückgegriffen. 1. Foto: mein erstes Nacktfoto. 2. Foto (mit Interesse stelle ich fest, daß heute manche Jugendlichen wieder so aussehen): ich mit ca. 18 Jahren. 3. Foto: mein 2. Nacktfoto, ich mit 18 Jahren. 4. Foto: meine langjährige (lesbische) Lebenspartnerin mit mir, ich bin da ca. 40 Jahre alt. Wir sind noch immer zusammen, warum auch nicht? 5. Foto: mit Herwig, meinem ersten (längeren) schwulen Freund, der mir viel beigebracht hat. Er war wohl mein Coming-out-Helfer. 6. Foto: mein Führerscheinfoto, ich war dort ein linker (schwuler) Mann von 32 Jahren. 7. Foto: im Gespräch mit Freund Egmont vom Verlag rosa Winkel. 8. Foto: mit meinem langjährigen und gegenwärtigen Lebenspartner Thomas. 9. Foto, das linke lesbisch-schwule Ehepaar, statt Gartenzwerge etwas Ähnliches. Das war noch bevor ich meinen heutigen Partner kennenlernte. 10. Foto: Ingo Taubhorns Fotoarbeit mit und von mir.
(Joachim Schönert)
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