Studentenzeit
Meine Zeit auf dem Abendgymnasium war auch die Zeit meines politischen Wandels. Aufgeregt erzählte ich meinen KollegInnen von den Argumenten, die von den linken abgebrochenen Gymnasiasten vorgebracht wurden, die auch das Abendgymnasium besuchten. Und während ich mich als anfänglich noch politisch rechts stehender Mensch durchaus über den Zerfall der Werte Sorgen machte, die dort zum Ausdruck zu kommen schienen, freute ich mich als politisch immer weiter links stehender Mensch über neue Ideen und neue gesellschaftliche Möglichkeiten und neue Werte. Als ich wieder einmal erregt über irgendwelche Argumente berichtete, meinte ein Arbeitskollege zu mir: "Du bist doch schon selbst so einer. Oder kannst du mir jetzt ein Argument dagegen sagen?" Damit hatte er natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Es gab keine vernünftigten Argumente gegen dieses kritische Hinterfragen der vorgefundenen autoritären Strukturen.
 
Meine religiösen Vorstellungen, die mich als Kind und Jugendlicher in einem dumpfen Nebel von Aberglaube und mysteriösen und mit Ängsten besetzten Zustand gehalten hatten, verpflüchtigten sich zunehmend und ich verspürte immer mehr Experimentierfreude und Lebenslust. Und so fing ich an, mich lesend und staunend mit Hegel, Marx, Trotzki, Bakunin und anderen anzureichern, aber auch mit Macuse, Pilgrim, Amendt usw. Ich las Mc. Neill, von Braunmühl und Makarenko und wurde zunehmend ein sogenannter verkopfter Intellektueller. Das alles war auf dem Abendgymnasium noch problematisch, führte zu Konflikten besonders mit Lehrkräften, aber man fand sich ja unter einem Teil der dort studierenden in gleicher Gesellschft. Auf der Uni war dann alles anders. Hier wurde eigentlich vorausgesetzt, dass man all das schon gelesen hatte, zumindest taten alle so.
 
Über meine Studentenzeit habe ich keine Fotos. Es war eine bewegte Zeit. Ich war also nun ein Student. Die Uni war ein Massenbetrieb und die Seminare waren überfüllt. Man musste mit einer ganzen Reihe von Einzelfragen zurchtkommen, zum Beispiel mit der Kantine, die auf der Uni natürlich Mensa hieß.
 
Furchbar lange Schlangen von StudentInnen standen an, etwa fünf bis zehnmal so viele drängten sich vorne irgendwo hineien, oft kannten sie jemanden oder sie machten es recht rabiat und rechneten damit, dass sich niemand beschwert. Tat dies jemand, dann gab es erregte Diskussionen und viele Gründe, warum sie sich vordrängen müssten.
 
Zum Beispiel das Vorlesungsverzeichnis, in dem die Veranstaltungen veröffentlicht waren, die stattfinden sollten. Daraus konnte man sich seinen Stundenplan zurechtbasteln und von Seminar zu Vorlesung und von Vorlesung zu Seminar gehen. Aber wie konnte man wissen, was man eigentlich benötigt, um die entsprechende Anzahl von Scheinen vorzuweisen, die Voraussetzung zur Zulassung zur ersten Staatsprüfung sind? Man musste sich also durchfragen, sich nach dem Hörensagen orientieren usw.
 
Es war dies eine politisch sehr angeregte und aufgeregte Zeit. Nächtelange Diskussionen um politische Fragen, zum Beispiel mindestens 5 verschiedene Gruppen und Initiativen von maoistischen StudentInnen, die alle die richtige Linie vertraten im Gegensatz zu all den anderen, dann Antiautoritäre und die Spontis (das waren Leute um Fischer, dem späteren Außenminister), DKP-nahe Gruppen, die mit dem Beispiel DDR kamen.
 
Unterschiedliche Trotzkisten, und Anarchisten. Wer etwas auf sich hielt, kannte viele von ihnen und konnte die inhaltlichen Positionen in den verschiedenen Fragen auseinanderhalten.
 
Zu Hause reflektierte man mit den FreundInnen und PartnerInnen, hörte Radio Peking oder Radio Tirana in deutscher Sprache. Bei all dem kamen die Diskussionen über die Fachzusammenhänge auch nicht zu kurz, denn man wollte ja alles beser machen, als es bisher war.
 
So analysierte man die verschiedenen pädagogischen Ansätze und Richtungen in Pädagogik, die verschiedenen psychologischen Schulen in Psychologie und die verschiedenen soziologischen Richtungen in Soziologie. Man kümmerte sich um soziologische und biologische Psychologie, um soziologische Politik und um politische Psychologie.
 
Die Sehnsucht nach der freien neuen Welt zeigte sich auch im Urlaub; auf dem Bild rechts sitze ich in Kiel am alten Bootshafen, wo uralte Hausboote und heruntergekommene Wracks neben Hertie und Karstadt dümpelten und ein Gefühl von Fernwehe, Abenteuer und Seefahrerromantik vermittelten. Hier saß ich gerne in der Sonne und träumte, aber ich weiß nicht mehr, was ich träumte.
 
In der Mensa an der Frankfurter Uni holte ich immer zwei Essen; das zweite kam in einen Termosbehälter und das bekam Renate am Abend, wenn sie von der Arbeit kam. Ich übernahm in dieser Zeit den Haushalt. Wir schlugen uns ganz gut durch, kamen arbeitsteilig zurecht und konnten sogar in Urlaub fahren. Nicht nur nach Kiel, sondern auch nach Rumänien, nach Jugoslavien und mehrfach nach Spanien. Ich weiß gar nicht, wie wir das damals geschafft haben, denn zur Zeit reicht es für einen Urlaub nicht mehr.
 
Nach dem Studium und der 1. Staatsprüfung ging es uns dann wirtschaftlich schwieriger. Aber mit Lehraufträgen und Gartenarbeiten sowie Nachhilfeunterricht kamen wir einigermaßen zurecht.
 
Einen großen Teil der Möbel, in denen wir noch immer wohnen, konnten wir uns nicht leisten. Sie kamen vom Sperrmüll und wir haben sie uns auch selbst gebaut.
 
Ich meine heute, wir haben damals wirtschafliche Fragen etwas lockerer gesehen, was uns gut bekommen ist, während wir die politischen Fragen viel ernster und verbissener sahen, was mir aus heutiger Sicht doch etwas lächerlich vorkommt.
 
Joachim Schönert
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