Das Kleinkind

Also das ist die Familie meiner Großmutter. Es ist dies ihre Mutter, meine Urgroßmutter also, und das Mädchen mit den weißen Stümpfen vorne links, dass ist ihre Tochter Else Döbelt, meine Großmutter.
 
Da hier noch nicht einmal an meine Mutter gedacht wurde, ist von mir noch lange nicht die Rede. Diese meine Großmutter heiratete den Vater Sumpf.
Und hier rechts ist Großmutter Else schon etwas älter, nämlich oben links in diesem Bild, das rechts neben diesem Text plaziert ist. Neben meiner Großmutter befindet sich Vater Sumpf, mein Großvater, den ich nie kennengelernt habe. Es war dies immer schon eine streng matriarchalische Familie. Das Matriarchat hat sich auch bei meinen Eltern erhalten
 
Aus Erzählungen weiß ich, dass mein Großvater (mütterlicherseits) eher zurückgezogen lebte, sehr sensibel gewesen sei und sich mit seiner strenge Frau wohl nicht so recht verstand. Sie war streng religiös und extrem sexualitätsfeindlich, was ich selbst auch noch zu spüren bekam. Die junge Dame rechts ist die Tochter Käte, die 9 Jahre jüngere Tochter links unten ist die Margarete, Marga genannt, meine Mutter.
 
Meine Mutter lernte dann irgendwie und irgendwann einen jungen Mann kennen, den sie wohl mochte, und in dem Bild links ist Friedrich Schönert, Fritz genannt, mit seiner Mutter zu sehen, deren Name ich nicht kenne, und Karl Schönert, seinen Vater und meinen Großvater, den ich später in einem Altersheim in Berlin kurz kennen lernte, als ich ca. 16 Jahre alt war.
 
Jedenfall muss ich annehmen, dass sich Marga und Fritz auch liebten, denn es kam, wie es damals kommen musste, sie heirateten.
 
Nach der Hochzeit war mein Vater im Krieg und nach einiger Zeit war ich unterwegs. Wegen seines Berufes habe er im Krieg nie zu schießen brauchen, erklärte er mir einmal, und wegen seines Berufes wurde er auch nach Wiesbaden versetzt und arbeitete bis zu seiner Rente im Landesvermessungsamt in Wiesbaden.
 
Am 1. Juli 1944 jedenfalls kam ich zur Welt und mein Vater war, so weit ich weiß, in dieser Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft.
 
Da meine Großmutter mütterlicherseits nach Wiesbaden nachgereist kam und sich mit um uns Kinder (ich habe eine 4 Jahre jüngere Schwester) kümmerte, war sie ein Mitglied der Familie. Die Familie, aus meiner Mutter, meiner Großmutter und mir als Säugling bestehend, wurde in der Bombenzeit nach Niederbayern geschickt. Möglicherweise stammen aus dieser Zeit meine ersten Nacktfotos.
 
Als Dreijähriger bin ich in die Kindererholung verschickt worden, wovon das Foto auf der rechten Seite stammen soll. Entweder habe ich damals beim Photografieren immer gelacht, oder ich hatte tatsächlich gute Laune, was mir unerklärlich ist, denn meine Erinnerungen an meine Kindheit waren ansonsten nicht so besonders rosig. Vielleicht gehörte auch zu meiner Erziehung durch meine Mutter, meine Großmutter und später noch meine jüngere Schwester (selten aber auf Gehiß meiner Mutter dafür schmerzhaft auch meinen Vater), dass ich immer artig und gutgelaunt auszusehen hatte.
 
Aus meiner frühen Kindheit in der Blücherstraße 38 in Wiesbaden weiß ich nicht mehr so viel. Ich weiß nur noch aus Erzählungen, dass unten im Haus ein Bäcker war und dass ich mich wohl als Kleinkind an einem im Hof zum Kühlen abgestellten Kuchen vergriffen haben soll. Das war wohl in der Nachbarschaft ein mittlerer Skandal.
 
Der "Skandal" für mich war allerdings, dass ich auch damals schon viel zu artig war, so etwas zu tun, während ein Spielkamerad, den ich mit in den Hof genommen hatte, dies zu meinem Entsetzen tat. Ich konnte mich aber nicht dagegen wehren, dass alle meinten, ich wolle mich nur rausreden, also blieb das auf Dauer auf mir sitzen und war für meine Mutter Erzählstoff, wenn Besuch kam. Frauen nutzen ja gerne die Situation, vor Besucherinnen und im Beisein der Familie, ihre "Wahrheiten" über die Familie und unter Beifall loszuwerden.
Meine Mutter und meine Großmutter erzogen mich, und das war oft sehr hart. Ich kann mich an meine Großmutter nur in der Form erinnern, dass sie sehr streng und unerbittlich war. Wenn zum Beispiel noch etwas Rasierschaum von meinem Vater im Ausguss war, musste sie sich übergeben, oder sie tat so, da sie nichts Männliches mochte.
 
Als ich 4 Jahre alt war, kam noch eine Schwester auf die Welt. Ich war also von weiblichen Personen umgeben. Und mein Vater? Ich habe von ihm aus dieser Zeit die Erinnerung, dass er Klavier spielte, nach Tabak roch, was ich nicht mochte, sich aus der Kindererziehung wohl weitgehend raushielt und mich in unregelmäßigen Abständen mit einem Rohrstock oder später wohl auch einem Kleiderbügel auf den nackten Hintern zu Splittern verdrosch bis er blutete, wenn meine Mutter oder meine Großmutter sich bei ihm beschwert hatten oder er selbst galubte, dass es mal wieder Zeit dazu sei. Das war aber, so habe ich es in Erinnerung, insgesamt ca. 6 bis 8 mal.
 
Ich habe eigentlich im wesentlichen nur negative Erinnerungen an meine Kindheit, meine Eltern und meine Herkunftsfamilie.
 
Aus dem Bild rechts, wo ich krank war, erkennt man, dass ich mich in die Literatur flüchtete, sobald ich es konnte. Beim Lesen begab ich mich in Traumwelten, und ich muss sagen, dass ich relativ spät das wurde, was man einen Realisten nennt. Ich bin wohl die Mischung aus einem Träumer und einem Realisten. Vielleicht bin ich in Wirklichkeit nie ganz Realist geworden. Von meiner Mutter erhielt ich immer mal Ohrfeigen aus heiterem Himmel, so sah ich das, und dann schreckte ich aus Träumereien oder aus meinem Buch, das ich gerade las, auf. Dennoch legte meine Mutter großen Wert drauf, dass ich sie liebte, es ihr zumindest bewies.
 
Auf der Rettbergsau war ein Strandbad, wo man im Rhein schwimmen konnte, und da lernte ich schwimmen. Wie man hier sieht, hat sich meine Schwester Rosemarie unter dem Schutz meiner Mutter den Spaß gemacht, Wasser über mich zu gießen, was mir wohl nicht so sehr gefallen hat.
 
In der Schule bin ich eigentlich nicht wegen meiner Sportlichkeit aufgefallen (Ich war wegen eines zu schwachen Herzens vom Sport befreit), sondern, weil ich mich immer zum Lesen zurückzog und dann von dem Gelesenen erzählte: Die Expeditionen nach Afrika, Südamerika, Indonesien und Australien.
 
Ich galt wohl unter Mitschülern als leicht verschroben und wurde "Urwalddoktor" genannt. Aber ich hatte hier auch richtige Jungenfreundschaften, die mir viel gaben.
 
Später, als sich meine altersgleichen Schulfreunde für Mädchen zu interessieren begannen und deshalb ihnen gegenüber Distanz hielten, verkehrte ich kameradschaftlich längst mit Mädchen, ohne dies als bemerkenswert zu empfinden, was mir das Schimpfwort "Mädchenrolzer" einbrachte. Ich spielte mit ihnen wie Jungs mit den Jungen Nachlaufen und Verstecken, ohne dass ich etwas dabei empfand, was dagegen sprechen sollte. Tiefer empfand ich da meine Freunschaften mit Jungen.
 
Ich weiß nicht, wie alt ich war, als wir in die Göbenstraße 27 umzogen. Es war im gleichen Häuserblock nur sozusagen auf der Rückseite davon. Dort hatte ich zwar auch kein Kinderzimmer, sondern ich schlief in der Schneiderwerkstatt, dem Zimmer, in dem meine Mutter als Damenschneidermeisterin mit ihren weiblichen Lehrlingen ihrem Handwerk nachging. Aber woran ich mich dann erinnern kann, das gerhört schon in den Bereich meiner späteren Kindheit.
 
Joachim Schönert
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