Gruppenprozesse
Wie in vielen Zusammenhängen auch spielen in der Lesben- und Schwulenszene Gruppen eine große Rolle. Viele sind von den gruppeninternen Vorgängen oftmals überrascht. Was sich in Gruppen abspielt, ist wissenschaftlich erforscht und unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Es ist also nicht ein mieser Gruppenteilnehmer, der uns die Gruppe verleidet, sondern es ist das Verhältnis zwischen meinen (oftmals) unausgesprochenen Interessen und den vorhandenen Strukturen. Wenn es eine jahrelang existierende Gruppe mit relativ stabilen Teilnehmern gibt, dann beweist sie damit, daß sie (auch ohne mich) erfolgreich existiert. Der Fehler könnte also bei mir liegen.
Es gibt eine Reihe von Abläufen, von Rollen und Verhaltensweisen, die sich in solchen Gruppen abspielen, die von der Definition her Gruppen sind. Ob es sich um Gruppen in Ausbildung und Beruf handelt oder im Freizeitbereich. Diese Gemeinsamkeiten zu erkennen, heißt, Gruppenprozesse günstig beeinflussen zu können.
 
1. Was ist eine Gruppe?
Wir müssen der Korrektheit wegen Massen, Cliquen, Stammtische usw. von Gruppen abgrenzen
1.1. Gruppen haben entweder einen gemeinsamen Weg, ein gemeinsames Ziel oder gemeinsame Interessen. Sie haben regelmäßige Treffen, einen gemeinsamen Anfang und ein gemeinsames Ende, wenn z. B. das Ziel erreicht ist. Im Freizeitbereich gibt es Gruppen mit einer großen Lebensdauer. Durch Neueintritte und Austritte unterliegen sie einem ständigen Klärungsprozeß, da sich Konflikte des Anfangs und Endes ständig wiederholen.

1.2. Gruppen sind im Gegensatz zu Massen oder Verbänden so strukturiert, daß sich die Mitglieder noch individuelle wahrnehmen können.

1.3. Gruppen haben eine Sinngrenze, die es den Mitgliedern ermöglicht, zwischen "wir" und "die anderen" zu unterscheiden. Zur Definition der Gruppe gehört es, daß sich die Teilnehmer als Teil der Gruppe verstehen.

1.4. In Gruppen finden Prozesse zwischen den teilnehmenden Personen statt. Die Teilnehmer werden durch diese Prozesse in ihrem Denken und Handeln beeinflußt.

1.5. Kennzeichen von Gruppen ist die Aufgaben- und Arbeitsteilung, was dazu führt, daß die Teilnehmer als "gut" oder "schlecht" in Hinblick auf ihren Beitrag beurteilt werden.

1.6. Gruppen entwickeln gemeinsame Normen und Regeln des Umgangs miteinander. Diese ungeschriebenen Verhaltensvorschriften machen es Neueinsteigern oder Seiteneinsteigern schwer, sich orientieren zu können.

1.7. Es gibt formelle Gruppen, die von außen zusammengesetzt werden, besispielsweise eine Arbeitsgruppe, deren Teilnehmer von irgendeiner Führung zusammengesetzt werden, und informelle (nicht formelle) Gruppen, die sich finden.
 
2. Führung und Leitung
Es gibt eine Diskussion, ob es Gruppen ohne Führung gibt oder geben kann. Diese Frage ist schwer zu klären, weil dies damit zu tun hat, was als Führung und Leitung empfunden wird. Umstritten ist auch die Auffassung, daß sogenannte informelle Führer in Wirklichkeit keine Führer seien, weil sie keine Befehlsgewalt haben.
 
Man kann aber persönlichen Einfluß auch erhalten und leitet damit an, auch wenn man keine eigentliche Macht hat. Macht ist dadurch definiert, daß man die Möglichkeit hat, eigene Ziele gegen den Willen anderer durchzusetzen. Um Macht haben zu können, ist die Abhängigkeit der anderen TeilnehmerInnen die Voraussetzung.

2.1. Es gibt eine formelle Leitung, die von außen kommt (ein Leiter einer Arbeitsgruppe wird vom Chef bestimmt) sowie eine formelle Leitung, die durch Wahl entsteht. In beiden Fällen handelt es sich um eine Hierarchie, weil hier Personen Entscheidungsgewalt bekommen und ihnen somit Macht über andere gegeben wird.

2.2. Es gibt informelle Leiter, die aufgrund ihrer Sachkompetenz, ihrer Struktur- und Organisationsvorschläge oder ihrer Beliebtheit einfach die Möglichkeit bewkommen, andere Mitglieder anzuleiten. Hier handelt es sich um Leitungsfunktionen die an eine Rolle der Person und nicht an eine Machtposition der Person gebunden ist. Auch wenn eine formelle Führerschaft besteht, entstehen solche informellen Leitungsfunktionen.
 
3. Führungsstile
Der formelle Führer aber auch in Einzelfällen der informelle Leiter können auf unterschiedliche Weise führen und leiten. Es gibt drei unterschiedliche Fürungsstile, die unterschiedliche Auswirkungen auf das Gruppenklima und die Arbeitsfähigkeit der Gruppe haben. Es ist nicht alleine Sache des jeweiligen Leiters, wie sein Führungsstil ist, sondern auch Sache der Mitglieder, was sie davon hinzunehmen bereit sind. Natürlich ist in der Realität das Verhalten nicht so typisch wie in den unten stehenden Abgrenzungen beschrieben:

3.1. der autoritäre Führer
Er trifft alle wichtigen Entscheidungen selbst und alleine. Er bestimmt, wer welche Tätigkeit ausführt; die Mitglieder werden darüber bestenfalls informiert. Damit wird den Mitgliedern nur ein Minimum an Einsichtnahme in den gesamten Arbeitsvorgang gewährt. Lob und Tadel werden in den meisten Fällen nach dem eigenen Gutdünken verteilt, Kriterien und Maßstäbe von Bewertung sind nicht allen zugänglich. Der autoritäre Führer droht, moralisiert, verlangt das Akzeptieren seiner Urteile. Einspruch und Nachfrage sind schwer möglich. Er behält seine Mitglieder "im Auge", erwartet Gehorsam und unterbindet oder lenkt die Kontakte zwischen seinen Mitgliedern.

Der Autoritäre Führer erzeugt Unterwürfigkeit und Speichelleckerei. Seine Autorität kann durch offene Agression oder Mobbing Angst und Gefolgschaft erzeugen. Vorteil für den Geführten: er braucht keine Verantwortung zu unternehmen. Nachteil für den Geführten: er kann sich nicht mit den Entscheidungen identifizieren. Vorteil des Führers: er ist in seiner Eitelkeit geschmeichelt, er braucht Vorbereitungen und Pläne nicht zu verändern. Nachteil für den Führer: er erfährt nicht, wie die anderen Gruppenmitglieder empfinden. Er vewechselt Unterwürfigkeit mit Zuwendung und kann oftmals böse Überraschungen erleben.

3.2. Demokratische Führung
Wenn es sich um eine formelle Führung handelt, wird sie demokratisch gewählt. Bei einer informellen Führung wird sie aufgrund ihrer Fachkompetenz oder ihrer Organisaationsfähigkeiten für diese Rolle akzeptiert. Diese Akzeptanz ist nicht an seine Person, sondern an diese Rolle gebunden. Er hat keine Machtmittel, irgend etwas gegen den Willen seiner Gruppenmitglieder durchzusetzen.

Entscheidungen werden von der Gruppe diskutiert und entschieden. Bei der Aufgabenverteilung sind alle beteiligt und Lob und Tadel werden nach sachlichen und objektivierbaren Kriterien verteilt. Der demokratische Leiter versucht, alle zu einer aktiven Mitarbeit zu bewegen und beschränkt seine Interventionen auf situationsgerechte Unterstützung durch Rat, ordnende Vorschläge und unterstützende Beurteilung.
 
Die Meinungen der anderen werden als solche toleriert, und der demokratische Führer ist aufgeschlossen für Erfahrungen, Wünsche und Vorstellungen der Gruppenmitglieder. Es herrscht eine vertrauensvolle und partnerschaftliche Atmosphäre, in der jeder den anderen als gleichwertigen Partner mit seinem Recht auf Selbstbestimmung und Selbsterfahrung achtet. Für den Leiter einer solchen Gruppe ist es oft schwieriger, besonders wenn er die Leiterfunktion aufgrund seiner Sachkompetenz hat, das inhaltliche Ziel dieser Gruppe nicht aus dem Auge zu verlieren. Damit kann er sich unbeliebt machen. Näheres dazu später an anderer Stelle. Die Gruppenmitglieder haben den Nachteil, größere Verantwortung tragen zu müssen. Sie haben den Vorteil, sich nicht inkompetent führen lassen zu müssen.

3.3. Die laissez-faire Führung
Dieser Leiter existiert nut als formeller Führer. Er greift nur selten in das Geschehen ein. Er agiert nur, wenn er aufgefordert oder um seine Meinug gefragt wird. Die Führungsfunktionen sind auf ein Minimum reduziert, und er versucht sich selbst aus dem Gruppenprozeß herauszunehmen, indem er sie allein läßt. In seinem Umgang mit den Gruppnmitgliedern vertröstet er sie auf mögliche Entwicklungen, verweist auf unvermeidliche Außenbedingungen oder bagatellisiert die Situationen. Er nimmt sie damit in ihren Absichten nicht ernst. Er gibt den Mitgliedern keine Hilfestellung bei der Wegfindung und gibt keine eigenen Erfahrungen preis. Vorteil für den Leiter: er wälzt alle Verantwortung auf die Mitglieder ab. Nachteil: er wird als entbehrlich empfunden. Vorteil für die Mitglieder: sie können alles alleine bestimmen. Nachteil: sie erhalten keine Hilfestellung.
 
4. Lebenslauf einer Gruppe
Eine Gruppe macht im Laufe ihrer Existenz vier klar zu unterscheidende Phasen durch: (1) Anfangsphase mit hohem Wohlbefinden ihrer Mitglieder, (2) Gärung und Klärung in einer Gruppe mit großem Mißbehagen, (3) arbeitsproduktive Phase mit Schwankungen zwischen Wohlbefinden und Mißbehagen und die (4) Abschiesphase oder Ausstiegsphase mit einer inneren Bereitshaft der einen, sich nun nach außen zu orientieren, was in der Gruppe als Mißbehagen empfunden wird, oder dem Versuch des Festhaltens, was euphorische Urteile entstehen läßt. Bei Gruppen mit großem Lebenszyklus kommen immer wieder neue Einstiegsphasen, Gärungsphasen bei neuen Zugängen zum Tragen, sowie das schlechte Klima durch Aussteigende, die sich schon anders orientiert haben. Eine Gruppe sollte Arbeitsthemen haben, denn Beziehungsklärung ist inhaltsleer nicht möglich. Gemeinsamkeit wächst mit einem gemeinsamen Ziel.

4.1. Anfangshase
Die Gruppe beginnt mit einem gemeinsamen Anfang. Dann kann die formale Gruppenleitung dies planen und vorbereiten. Kommt jemand Neues hinzu, dann empfindet er als Einzelner anders als die anderen Mitglieder.

4.1.1. Die Teilnehmer
Für die neuen Gruppenmitglieder bedeutet dies Unsicherheit, ambivalente Gefühle, Nähe und Distanz gegenüber einander, es existiert ein Vorschußvertrauen und die Frage der eigenen Akzeptanz in der Gruppe steht im Vordergrund.

4.1.2. Die Gruppenleitung
Sie kann die Teilnehmer empfangen, das Kennenlernen organisieren, der entstehenden Gruppe eine Struktur geben, den Mitgliedern eine Orientierung ermöglichen. Das erfordert viel Einsatz von der Leitung.

4.1.3. Methoden
Es können Kennenlern-Spiele stattfinden, inhaltliche Aufgaben gestellt werden, und zwar kurze Aufgaben mit rascher Befriedigung, jeder soll sich freuen können und es können natürlich auch schon die Ziele der Gruppe vorgestellt werden.

4.2. Gärung und Klärung
Diese unerfreuliche Phase muß die Gruppe durchmachen, denn wenn sie unterdrückt wird, findet sie ständig versteckt in der darauf folgenden Phase statt. Der Gruppenleiter soll keine Partei ergreifen, soll aber eingreifen, wenn bei den Machtkämpfen Opfer entstehen oder das Ziel der Gruppe infragegestellt wird. Bei Seiteneinsteigern wird diese Phase immer neu wiedeholt. Von Neueinsteigern muß daher ein größeres Integrationsbemühen verlangt werden, damit die Gruppe arbeitsfähig bleibt. Wenn zum Beispiel jemand selten kommt, kann die Gruppe nicht ständig Grundsatzdebatten beginnen. Sonst kann es vorkommen, daß er die Gruppenmitglieder brüskiert und er daher zum Außenseiter wird.

4.2.1. Die Gruppenmitglieder
Erste Beziehungen bilden sich, Teilnehmer loten ihre Grenzen aus, Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden festgestelt, Rangfolgekämpfe entstehen und der Gruppenleiter wird getestet, eine größere Intimität zwischen Gruppenteilnehmern entsteht wie auch ein wir-Gefühl, während andere Teilnehmer die Gruppe verlassen.

4.2.2. Die Gruppenleitung
Die Gruppenleitung muß Vorbildfunktion für den Umgang miteinander in der Gruppe haben. Sie darf sich nicht in die Auseinandersetzungen hereinziehen lassen und kann versuchen, die Machtkämpfe zu gestalten. Es ist für sie eine große Sensibilität notwendig. Sie hat in dieser Situation die Aufgabe, Werte und Normen der Gruppe zu verkörpern und zu gestalten, doch dann muß sie ihre normierende und steuernde Funktion schrittweise zurücknehmen.

4.2.3. Methoden
Sie kann Aufgaben stellen, mit solchen Sachfragen, die Kontroversen zulassen. Sie bildet Kleingruppen mit Zufallszusammensetzung und läßt Spiele spielen, die Wettkampfcharakter haben. Letztlich muß die Leitung aber die Ziele der Gruppe begründen oder sie verändern (lassen).

4.3. Die konstruktive Periode
Das Ziel einer Gruppe ist es, etwas zu entwickeln, zu lernen, an einer Aufgabe beteiligt zu sein oder Ähnliches. Insofern läuft alles darauf hinaus, diese Phase zu erreichen, in der miteinander gearbeitet werden kann. Das Wohlbefinden der Teilnehmer schwankt nun im oberen, im Zufriedenheitsbereich, je nach Arbeitsbelastung und Einsicht in die Ergebnisse der Arbeitsteilung.

4.3.1. Die Teilnehmer
Sie empfinden Unterschiede als Stärke. Durch Arbeitsteilung können sich alle in ihren Aufgaben gemäß ihrer Stärken bestätigen. Die Beziehungen zwischen ihnen sind relativ stabil. Es ist ein Wir-Gefühl durch die gemeinsam Aufgabe (nicht z.B. durch einen inneren oder äußeren Gegner, denn dies ist zu unstabil) entstanden, was mit einem Abgrenzungsgefühl gegenüber anderen einhergeht: wir und die anderen. Die Teilnehmer nehmen eigenverantwortlich teil und wollen sebständig handeln, planen und arbeiten.

4.3.2. Die Gruppenleitung
Sie hat den Stand der Gruppe zu beobachten und gute Arbeit und Arbeitsergebnisse durch Anerkennung zu belohnen. Sie hat die Aufgabe, die Gruppe immmer mehr in die gemeinsame Planung mit einzubeziehen, die eigenen Leituingsaktivitäten zurückzuschrauben und das Wir-Gefühl der Gruppe zu stärken.

4.3.3. Methoden
Der Gruppe sollen komplexere Aufgaben gegeben werden. Die Teilnehmer sollen zunehmend für das Produkt verantwortlich werden. Sie sollen Themen erhalten, die von ihnen Engagement erfordern. Der Leiter ist dann nur noch Moderator, Lernberater und steuert die Metakommunikation.

4.4. Abschied, Austieg oder Transpher
Entweder erreicht die Gruppe das definierte Ende oder einzelne Teilnehmer steigen aus. Ich beschäftige mich hier um das definierte Ende und überlasse es den LeseInnen, das Entsprechende für den Ausstieg Einzelner abzuleiten. In diesem Falle überwiegt beim Aussteigenden die negative Gefühlsvariante, weil er ja einen rechtfertigenden Grund für den Ausstieg benötigt und emotional das Wir-Gefühl längst verlassen hat, sich auf die Zeit danach schon eingestellt hat.

4.4.1. Die Teilnehmer
Die einen romantisieren den Zusammenhalt, andere bekommen Torschlußpanik und versuchen das Ende herauszuschieben, sie bereiten sich auf die Zeit danach oder den Übergang in andere Formen der Zusammenarbeit vor. Zunehmende Vereinzelung findet statt, es entstehen zunehmend Konflikte.

4.4.2. Die Leitung
Sie soll die Auflösung unterstützen, den Abschied gestalten und Transphermöglichkeiten aufzeigen (nachfolgende Formen der Zusammenarbeit).

4.4.3. Methoden
Die Leitung soll den Abschied gestalten, Themen abschließen, vielleicht ein Abschiedsritual durchführen und einen Transpher durchdenken lassen.
 
5. Rollen
Wenn es darum geht, das Rollenverhalten von Gruppenteilnehmern zu beschreiben, dann fallen z. B. folgende Verhaltensrollen auf:

Gruppenführer, Kasper, Unbeteiligter, Kritiker, Vater- Mutterwesen, Beschwichtiger, Heulsuse, Ablehner, konstruktiver Mitarbeiter, Selbstdarsteller, Agressiver, Prediger, Moralist, Märthyrrher, Besserwisser, Berufspessimist, Berufsoptimist, Organisator, Destruktiver, Versachlicher, Außenseiter, Sündenbock, Opfer, Schleimer, Hilfsbedürftiger, Arbeiter, Rückversicherer usw.

Viele der genannten Rollen haben etwas mit den Charaktereigenschaften zu tun, die die Teilnehmer mitbringen. Es kann sich in Ausnahmefällen auch um die Auswirkung einer psychische Erkrankung handeln, die ein Gruppenmitglied mitbringt. Man spricht zum Beispiel von einem "sekundären Krankheitsgewinn", den ein gewollter Außenseiter erhält. Es sind Zuwendungen, die er ohne diese Außenseiterposition nicht erhalten würde. Vieles kann sich aufgrund des erworbenen Platzes in der Gruppe entwickelt haben.

5.1. Kommunikations-Rollen
Man kann aus der Liste oben für die Kommunikationssituationen folgende Rollenbeschreibungen in Arbeitsgruppen treffen:

5.1.1. Prediger und Besserwisser
Er belehrt, moralisiert, erklärt und interpretiert, spricht in der "Wir-Form", verteidigt althergebrachte Regeln und Normen, findet kaum ein Ende, sondert jedesmal einen ganzen Redeschwall ab. Wenn jemand ständig lobt, dann wird er auch ständig tadeln.

5.1.2. Besänftiger
Er beruhigt, bagatellisiert, versucht für alle Verständnis aufzubringen, ist nett und verbindlich, kehrt Streitpunkte unter den Tisch, versucht jedem gerecht zu werden, wirkt harmonisierend.

5.1.3. Killerphrasen-Produzierer
Er zitiert autoritäten, zitiert die "Wissenschaft", spricht in der Man-sollte-Form, fragt, ob man das jemals schon probiert hat, stellt alle Vorschläge in Frage.

5.1.4. Tadelnder
Er schüchtert ein, vergleicht mit anderen, urteilt schnell über die anderen, macht Vorwürfe, wertet Vorschläge/Personen ab, kritisiert destruktiv.

4.1.5. Ausweichender
Er tut so, als habe er das Ganze nicht verstanden, er vermeidet ein klares ja oder nein, lenkt vom Problem ab und und geht auf ein anderes Thema über, tut so, als hätte er mit dem Problem nichts zu tun; kann nicht verstehen, daß es da überhaupt ein Problem gibt und daß darüber soviel Aufhebens gemacht wird.

5.2. Notwendige Gruppenrollen
Folgende Rollen ergeben sich aber notwendig aus den Eigengesetzlichkeiten jeder Gruppe:

5.2.1. Der fachliche Leiter
Er wird zum informellen Führer einer Gruppe, bekommt die Möglichkeit, Lob und Tadel auszusprechen, wird aufgrund seiner Sach- und Fachkompetenz respektiert aber ist nicht sonderlich beliebt.

5.2.2. Der soziale Leiter
Er ist der Sympatieträger der Gruppe, beeinflußt das soziale Klima und ist sehr beliebt.
(Entweder handelt es sich um 2 Personen, dann kann es zum gegenseitigen Ausspielen der Funktionen kommen. Oder beide Funktionen werden von einer Person eingenommen. Dann halten sich Beliebtheit und Respekt in Grenzen.)

5.2.3. Der "normale" Teilnehmer
Die oben genannten Eigenarten kann er aufweisen, aber er stellt die Masse der Teilnehmer. Aus diesem Kreis entwickeln sich die informellen Leiter und der Sündenbock.

5.2.4. Der Sündenbock
Er kommt zu dieser Rolle, weil er ein Normenstörer ist. In jeder Gruppe entwickeln sich Normen. Als Blitzableiter für eigene Schwächen kann ein außerhalb der Gruppe existierender "Normenstörer" fungieren, der sich selbstverständliche nicht an die Normen der Gruppe hält und deshalb nicht verteidigen kann. Der Sündenbock innerhalb einer Gruppe ist ein Seismograph. Er ist sensibel genug, schwachsinnige Normen zu erkennen und durch sein Verhalten anzuprangern. Warum stört jemand jetzt? Was kann uns das sagen? Was sagt der Umgang mit dem Sündenbock über den Zustand der Gruppe aus?

Oft endet eine Auseinandersetzung mit einem Normenstörer mit dessen Ausscheiden aus der Gruppe. Wenn es wirklich ernsthafte Probleme in der Gruppe gibt, wird der Nächste zum Sündenbock. Diese oben beschriebene nützliche Funktion ist natürlich nicht auf einen Quertreiber anzuwenden, der das ganze in Frage stellt und vor dem sich die Gruppe schützen muß.
 
6. Entscheidungsprozesse
Zur Erreichungen von Zielen ist das Treffen von Entscheidungen erforderlich. Die Eigenart der Gruppenteilnehmer bestimmt die Entscheidungsfindung mit. Kopfschütteln, Zwischenrufe, zustimmendes Nicken, lautstarke Zustimmung usw. gehen der Enttscheidung voraus. Besonders häufig anzutreffen ist in den Findungsprozessen das Übergehen (Plops), z. B. wenn ein Gruppenmitglied eine Entscheidung vorschlägt, die anderen aber nicht darauf eingehen. Dies kommt vor, wenn ein Gruppenmitglied agressiv wird, der Vorschlag nicht deutlich formuliert wurde und/oder die Gruppe aus mehreren gleich starken Mitgliedern besteht. Oft werden Entscheidungen durch (Topic-Jumping) Abweichen vom Thema verhindert, und die Gruppe kommt zu Entscheidungen, die eigentlich nicht in der Absicht der Gruppe waren.

6.1. Mögliche Entscheidungsmethoden
Es gibt verschiedene Methoden und Arten, Entscheidungen durchzuführen.

6.1.1. Ein Gruppenmitglied maßt sich das Recht an, für die Gruppe Entscheidungen (Self-authorized decision) zu treffen. Alleine ein Vorschlag verführt die Gruppe dazu, diesem Vorschlag zuzustimmen, da eine Ablehnung schwerer fällt. Die Entscheidung kommt zustande, weil einige Mitglieder von ihrem Recht keinen Gebrauch machen.

6.1.2. Eine Entscheidung kommt zustande, weil zwei aus der Gruppe sich zusammenschließen (Hand-clapsing). Diese Zusammenschlüsse sind oft mit einem Überraschungsmoment verbunden und zwingen die Gruppe plötzlich, mit zwei Mitglieder gleichzeitig fertig zu werden.

6.1.3. Mehrere Gruppenmitglieder legen im voraus ihre Entscheidung fest (The Clique) und majorisieren dadurch die Gruppe. Unabhängig von der Qualität der Entscheidung führt ein solches Verhalten zur Verminderung des gegenseitigen Vertrauens.

6.1.4. In manchen Gruppen wird ein Mehrheitsbeschluß (Majority Rule) angestrebt. Die unterlegene Minderheit bleibt jedoch häufig gegen die Entscheidung eingenommen oder sabotiert sie sogar heimlich.

6.1.5. Durch Ausüben von Druck auf Widerstrebende, die ihr Recht auf Meinungsäußerung nicht mehr wahrnehmen, weil sie fürchten, nicht unterstützt zu werden. "Ist jemand dagegen?" oder "Wir stimmen doch alle zu?"

6.1.6. Eine Entscheidung wird durch scheinbare Einstimmigkeit (Unanimity) angenommen, weil der Druck mitzumachen so groß ist, daß sogar eine Mehrheit überzeugt sein kann. Derartige Entscheidungen werden in der Regel in der Praxis nicht umgesetzt.

6.1.7. Eine Entscheidung wird getroffen, nachdem alle Gruppenmitglieder ausreichend Zeit zur Darstellung ihres Standpunktes erhalten haben und das Problem von den verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet worden ist. Am Schluß der Diskussion haben alle Mitglieder die Überzeugung, daß die getroffene Entscheidung die bestmöglichste ist, weil sie einen Konsens (Consensus) der verschiedenen Ansichten darstellt. Auch diejenigen, die nicht in allen Punkten übereinstimmen, können die Entscheidung umsetzen und mittragen, weil ihre Meinung mit zur Geltung gekommen ist.

6.2. Faktoren, die Beschlüsse durch die ganze Gruppe erleichtern
Es ist manchmal nötig, daß die gesamte Gruppe an den Entscheidungen teilnimmt, und zwar, wenn es notwendig ist, verschiedene Standpunkte und Meinungen zu berücksichtigen, wenn die Gruppe direkt von der Entscheidung betroffen ist, wenn die Gruppe den Beschluß selbst ausführen muß, wenn die Gruppe gelernt hat, wirksam zusammenzuarbeiten, wenn die Führungsfunktionen verteilt sind, wenn ein Beschlußverfahren angewendet werden soll, das dem Problem angemessen ist.

Die Gruppe kann die Entscheidungen dann besser fällen, wenn eine genaue Definition des Problems vorliegt; wenn eine klare Einsicht in den Grad der Verantwortung vorliegt, der jedem einzelnen für die Entscheidung zukommt; wirksame Metoden der Ideenfindung und Ideenmitteilung; eine angemessene Gruppengröße; wirksame Methoden zur Prüfung anderweitiger Lösungen; wirksame Methoden der Ausführung der getroffenen Entscheidung; der Einsatz eines formellen Leiters für ein Verfahren, das es der ganzen Gruppe ermöglicht, die Entscheidung zu treffen; Übereinstimmung über das Verfahren, durch das Entscheidungen getroffen werden sollen, noch bevor die Überlegungen zum Problem beginnen.

6.3. Probleme, die einer Entscheidung entgegenstehen
Es können ganz unterschidliche gruppendynamische Prozesse die Entscheidungskraft einer Gruppe behindern.

6.3.1. Zwischenmenschliche Konflikte
In jeder Gruppe gibt es persönliche Differenzen, die entweder Zuneigung oder Ablehnung hervorrufen. Solche Differenzen erschweren eine Entscheidungsfindungsprozeß ganz erheblich. In einer solchen Situation ist es günstig, wenn "neutrale Dritte" aus der Gruppe oder von außen, die nicht unmittelbar vom Konflikt betroffen sind, auf die Natur dieser Differenz aufmerksam machen.

6.3.2. Methodische Fehler
Einschränkungen durch starre Verfahrensregeln, die einen Austausch unterschiedlicher Meinungen nicht zulassen. Persönliche Ansichten werden einer genauen Erforschung des Problems vorgezogen. Entscheidungen werden getroffen, ohne zu überprüfen, ob Übereinstimmung vorliegt.

6.3.3. Schlechte Führung
Der formelle Gruppenleiter verhindert freie Meinungsäußerung und Diskussion. Er wählt unangemessene Methoden der Beschlußfassung. Er berücksichtigt die Beweggründe und Prinzipien nicht, die in der Gruppe wirksam sind.

6.4. Schrittfolge für Entscheidungen aus Übereinstimmung
Es gibt 5 Schritte, die einen Entscheiungsprozeß erleichtern und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß eine Entscheidung den Willen der Gruppe zum Ausdruck bringt.

6.4.1. Genaue Bestimmung des Problems
Ein Verfahren wird eingeleitet, das es ermöglicht, das Problem zu definieren und zu umreißen und die Konsequenzen aufzuzeigen.

6.4.2. Das Sichten und Prüfen der vorgeschlagenen Lösungen
Es soll ein Verfahren gewählt werden, das alle verfügbaren Informationen und Tatsachen unter Berücksichtigung früherer Erfahrungen berücksichtigt.

6.4.3. Das Festlegen auf eine Lösung
Die Gruppe legt sich auf eine Lösung oder eine Verbindung verschiedener Lösungen fest.

6.4.4. Die Planung und Ausführung
Es sollen detaillierte Pläne erstellt werden, um die getroffene Entscheidung umsetzen zu können.
 
7. Gruppennormen
In allen Gruppen entwickeln sich Normen, die das Zusammenleben der Gruppenmitglieder regeln. Diese Normen verstehen sich nicht von selbst. In einer anderen Gruppe können sich völlig andere Normen entwickeln. Kennzeichen dieser Normen ist, daß sie meist unbewußt aus dem Zusammenwirken der Gruppenmitglieder entstehen. Sie sind eine Mischung von Haltungen, Normen und Werten der Mitglieder und stellen einen Kompromiß des Umgangs miteinander dar: Wie wird miteinander diskutiert? Wie gehen wir mit Pünktlichkeit und Fehlzeiten, bevorzugter Kleidung und der Sitzordnung um?

Obwohl die Normen nicht bekannt und nicht abgestimmt sind, wirken sie für das Gruppenleben bestimmend. Die Gruppe übt auf Normenstörer Druck aus, um sie zur Anpassung an die Regeln zu zwingen. Das Schwierige dabei ist, daß diese Regeln nicht genau bekannt sind und von den Mitgliedern unterschiedlich beachtet und ausgelegt werden können. Klärungsversuche können ur dann Erfolg haben, wenn diese Normen von der Gruppe bewußt reflektiert, kritisch hinterfragt und verändert werden dürfen.

Es gibt verschiedene Verfahren, die helfen, den Gruppenprozeß transparent zu machen. In der Beziehungsanalyse wird versucht, herauszufinden, welche Koalitionen und andere Beziehungen sich in der Gruppe herausgebildet haben. Ein ähnliches Verfahren ist die Soziometrie (Erstellen eines Soziogrammes), in dem die Sympatie oder Antipatie der Mitglieder untereinander aufgezeichnet wird.
(Joachim Schönert)