Dieser Beitrag wurde in der 74. Printausgabe der Zeitschrift LUST veröffentlicht, Frühling 03
 
Gesellschafts- gegen Parteipolitik
Unter Politik werden Parteikarrieren missverstanden. Aber die Verbesserung des gesellschaftspolitischen Klimas zu unseren Gunsten ist Gesellschaftspolitik. Was müssen unsere Ziele sein? Wie können wir was erreichen?
Das Wort Politik stammt von der griechischen Polis ab, dem griechischen Stadtstaat. Politik war also die Kunst der Staatsverwaltung. Dies beinhaltete aber von Anfang an auch die Gestaltung des öffentlichen Lebens, des auf das öffentliche Leben gerichtete Verhaltens und des in diesem Sinne rationalen (vernünftigen) Handelns. Die Politik war von den jeweiligen Wertvorstellungen über die bestehende gesellschaftliche Ordnung geprägt, das heißt, die herrschenden Werte waren und sind die Werte der Herrschenden.
Der Begriff Politik hat sich im Laufe seiner Geschichte in zwei Bedeutungsgruppen geteilt. Eine Bedeutungsgruppe ist eher traditionell und von oben nach unten gerichtet, die andere eher modern und von unten nach oben gerichtet, dennoch ist auch in Zeiten der Demokratie die erste Auffassung, dadurch nicht verschwunden. Die erste Auffassung gehört zum Obrigkeitsstaat oder zur Sehnsucht nach ihm, die andere Auffassung zur Demokratie, denn Demokratie heiß ja Volksherrschaft.

1. Politik hat nach der einen Auffassung im wesentlichen etwas mit der Staatsräson zu tun. So war Politik für Machiavelli die Kunst der Machterhaltung des Fürsten. Es ist also die Kunst der Obrigkeit, das Volk zu manipulieren und zu beherrschen. Die Interessen des Volkes oder von Teilen des Volkes spielen nur insofern eine Rolle, als man sie manipulativ nutzen kann. Das kann man heute noch bei Wahlen beobachten und hier ist entscheidend, wer bestimmt, was in den Medien erscheint. Die Medien sind aber zumeist erstens über den Besitz und zweitens über die Werbung von Konzernen gesteuert.

2. Als Folge der Französischen Revolution ist Politik auch der Kampf um eine "gerechtere Ordnung", die dem einzelnen Bürger Rechte gegenüber dem Staat garantiert, verstanden worden, und durch den Marxismus ist diese Auffassung noch um den Faktor der sozialen Gerechtigkeit erweitert worden. Also Politik ist demnach die Kunst, die Gesellschaft derart zu beeinflussen, dass sie für den einzelnen mehr Einflussmöglichkeiten auf das ganze ermöglicht und das Leben auch für die Nichtherrschenden besser wird.

Dabei haben wir das Problem, dass die Neigung, eigene Macht auch zugunsten eigener Ziele zu nutzen statt für die Allgemeinheit, eben auch von Revolutionären genutzt wird. Oft werden eigene Ziele einfach als allgemeine Ziele dargestellt. Und revolutionäre Regimes können sich zu recht obrigkeitsstaatlichen Apparaten entwickeln, während eher konservative Regimes aus Angst vor Revolution durchaus auch große Zugeständnisse machen können, dies zumindest so erscheinen lassen können. Allerdings stehen obrigkeitsstaatlich gewordene ehemalige Revolutionsregimes zumeist mit dem Rücken zur Wand, während liberal gewordene konservative Regimes sich zumeist solche Zugeständnisse leisten können, wenn sie weit und breit nicht bedroht sind.

Früher waren Staatsführungen auch ideologisch abgesichert, nämlich mittels der Religion. Die Obrigkeit bestimmte auch die Religion. Es gibt auch heutzutage immer noch Bestrebungen, eine beliebige Religion zur ideologischen Staatsführung zu nutzen. Aber manche Obrigkeiten duldeten in ihrer Rivalität mit anderen Staaten auch Menschen anderer Religion in ihrem Staate, was zur Folge hatte, dass der Staat zum Richter über die Religionen wurde. Dazu benötigt der Staat aber auch eigene Maßstäbe, und das ist zum Beispiel eine Staatsdoktrin, eine Staatsidee oder eine Verfassung. Wenn zum Beispiel Innenminister Schily eine fundamentalistisch-islamische Gruppe verbietet, weil ihre Ziele gegen die Verfassung des deutschen Staates gerichtet sind, dann hat dies auch damit zu tun. Aber das Verbot christlicher Fundamentalisten wurde meines Wissens noch nicht ausgesprochen.
 
Konsequenzen für uns?
Wir Lesben und Schwulen müssen, um sinnvoll für unsere Interessen handeln zu können, die Geschichte des Umgangs mit sexuellen Minderheiten kennen. Vorraussetzung dazu ist, wir verstehen uns als Teil einer zwar unorganisierten aber breiten Bewegung und verstehen, dass unsere Stärke daher im wesentlichen in unserer Vielfalt liegen kann. Dabei haben die einzelnen Individuen durchaus auch persönliche Ziele, die den gemeinsamen Interessen widersprechen können. Das macht es so schwierig.

Homosexualität war nicht immer ein politikfähiges Thema. In der griechisch-römischen Antike bestimmte einfach jedes Familienoberhaupt einer patriarchalischen Großfamilie, wie er leben und lieben wollte, und das war es dann. Seine Untertanen durften nicht anders sein, als es ihm beliebte. Und da gab es durchaus Männer, die ihre Lustknaben hatten, wie wir von vielen griechischen Dichtern und römischen Potentaten wissen. Wir wissen auch von der adligen Dichterin Sappho, die in der politischen Emigration auf der Insel Lesbos für ihren Unterhalt arbeiten musste, da ihr Mann sie in dieser Zeit nicht versorgen konnte, und dass sie als Schulleiterin einige ihrer jungen Schülerinnen verliebt war. Das geht aus ihren Liebesgedichten hervor. Ob es zu "Liebeshandlungen" gekommen ist, wurde nicht überliefert, was die Möglichkeit der Interpretation gemäß der eigenen Moralbegriffe ermöglicht. In dieser Schule wurden die Mädchen aus besserem Hause auf ihre Aufgaben in der Ehe vorbereitet.

Als der Provinzbischof des malariaverseuchten heruntergekommenen Nestes Rom sich (wie der römische Kaiser in Konstantinopel) auch "Pontifex Maximus" nannte, also oberster Brückenbauer, als er nach seinem Gutdünken ihm ergebene Adlige zum römischen Kaiser salbte, war nicht nur das abtrünnige weströmische Kaiserreich geboren, das Heilige Römische Reich, sondern der verstärkte kirchlich religiöse Einfluss auf die Gesetzgebung und den Staat. Gerade noch funktionalisierte die Politik die Religion zu ihren Gunsten (indem das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt und nicht mehr verfolgt wurde), nun funktionalisierte die klerikale Macht die staatliche Obrigkeit zu ihren Gunsten.

Je stärker Religion auch die Bereiche der patriarchalischen Familie beeinflusste, um so stärker konnte von außen in sie hineinregiert werden. Dazu eignete sich besonders das aus dem Judentum abgespaltene Christentum, das sich auch als Staatsideologie anbot, weil es eine Zeitlang die Ideologie der frühnationalen jüdischen Bewegung gegen Rom war, die sozialrevolutionäre Strömungen integrierte. Das Christentum wurde dann vom römischen Staat integriert und wurde zur Herrschaftsideologie des Staates.

Das Christentum hat viele detaillierte Verhaltensvorschriften, und als Tendenz zeigt sich hier eine leib- beziehungsweise körperbezogene Lustfeindlichkeit. Die aus der Lustfeindlichkeit resultierenden Schuldgefühle erwiesen sich als ein gutes ideologisches Unterdrückungsinstrument der Obrigkeit und wurde infolgedessen auch dazu genutzt. Für Homosexualität gibt es aber keinen anderen Grund als Lust, während für Heterosexualität es immerhin als Begründung auch das staatstragende biologische Absichern der Familie durch die Vermehrung gibt. So wurde Sexualität ideologisch an des Nachwuchszeugen gekoppelt und war nur in dieser Form zu rechtfertigen.

Die christlichen Organisationen (Kirchen) haben wie nach ihnen auch Organisationen anderer Religionen immer die Verknüpfung mit der Staatsmacht als Ziel und wurden zu einer gesellschaftspolitischen Kraft, indem ihr Bestreben ist, u.a. mit Lustfeindlichkeit ein emanzipiertes demokratisches Denken zu bekämpfen, weil dies individuelle Selbstbestimmung bedeutet. Das steht gegen die ideologische Beherrschung durch die Kirche als Verbündete der Obrigkeit, indem der Untertan aus religiösen Gründen gehorsam zu sein hat und dafür erst belohnt wird, wenn er tot ist.

Erst durch das revolutionäre französische Bürgertum, dass die Vorherrschaft von Adel und Klerus loswerden wollte, wurde die Sexualität in den Bürgerhäusern auch wieder befreit. Im Code Penal, dem napoleonischen Gesetzbuch, das dieser mit seinen Truppen zugunsten des Bürgertums in ganz Europa verbreitete, mischte der Staat sich in sexuelle Hanslungen zwischen Bürgern über 14 Jahren nicht mehr ein. Eine Bestrafung wegen homosexueller Handlungen war somit erst einmal ausgeschlossen. Diese liberale Haltung hielt sich besonders noch im Königreich Bayern bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 und dann erhielt das ganze Kaiserreich die preußische Rechtsprechung, die schon im Norddeutschen Bund durchgesetzt war. Danach gab es zwar keine Todesstrafe mehr auf mannmännliche Liebe, aber eben doch eine harte Bestrafung. Der § 175 RStGB war geboren.

Und so haben in Deutschland besonders schwule Männer die Erfahrung gemacht, dass sie es bei den staatlichen Verboten jeder mannmännlichen homosexuellen Handlung mit einer Verknüpfung von obrigkeitsstaatlicher und religiöser Politik zu tun hatten, gegen die anzukommen nahezu aussichtslos erschien.

Das alles war, nachdem die Politik von Parteien gestaltet wurde, in der Parteienpolitik verankert. Besonders die CDU in der Nachkriegszeit eiferte gegen "widernatürliche Unzucht" an, während die Sozialdemokraten sich nicht trauten, öffentlich ein solches Thema anzusprechen. Genauer gesagt, es interessierte sie auch nicht sonderlich. Mehr als 50.000 Männer wurden in der Nachkriegszeit zum Opfer der CDU-Familienpolitik durch die Prozesse aufgrund des § 175 StGB. So machte sich die CDU im Verein mit den Kirchen zum Todfeind der Schwulen und aufgrund der Frauenfeindlichkeit der reaktionären CDU-Familienpolitik auch zum Feind der Frauenbewegung und der emanzipierten Lesben, die zwar nicht verfolgt, aber in die Isolation verschwiegen wurden. Dies schließt natürlich nicht aus, dass es trotzdem Lesben und Schwule in den Kirchen und der CDU/CSU gab und gibt.

Irgendwann wird man jedoch von der CDU verlangen müssen, für dieses Verhalten nachträglich die Lesben und Schwulen um Entschuldigung zu bitten und sich von der Ideologie, die zu diesen politischen Maßnahmen führte, endlich öffentlich zu distanzieren.

Die Lage verbesserte sich für uns alle erst durch die frechen Aktionen der 68er Revoluzzer, die den Spielraum schafften, dass man sich selbst überhaupt erst einmal mit seinen Bedürfnissen finden und diese artikulieren konnte.

Das gesellschaftspolitische Klima war durch den Druck der 68er eher gegen die Spießer und Moralapostel gerichtet, die uns verfolgten, statt gegen uns. Dadurch entstand Druck gegen die staatstragenden Parteien und Verbände. Nach und nach besannen sich einige politische Parteien dann, um sich unter diesen Bedingungen nicht weiter lächerlich zu machen, und die Gesetze wurden Schritt für Schritt entschärft, schließlich abgeschafft. Deutschland war also in dieser Frage im weltoffenen Europa angekommen. Dies alles habe ich im Hinterkopf, wenn ich die Frage der Partei- und der Gesellschaftspolitik überdenke.
 
Verbände
Verbände sind in unserer Gesellschaft die InteressensvertreterInnen von großen Menschengruppen mit gemeinsamen Zielen. Es gibt das verfassungsmäßige Recht, zum Vertreten eigener Interessen Verbände zu bilden. Also nehmen wir zum Beispiel auf der einen Seite den Mieterschutzverein und auf der anderen Seite den Haus- und Grundbesitzerverein. Oder nehmen wir auf der einen Seite die Gewerkschaften und auf anderen Seite die Unternehmerverbände, in diesem Fall den BDA (Bundesverband der deutschen Arbeitgeberverbände), der ja auch mit seinen Unterorganisationen Tarifpartei ist.

Diese Organisationen üben so weit sie es können Druck auf Parteien aus, indem sie mit den Parteien verzahnt sind, aber die Parteien wirken ihrerseits durch Doppelmitgliedschaften auch auf die Verbände ein. Im Prinzip ist eine Partei ein Zusammenschluss solcher Verbände. Aber alle diese Organisationen führen natürlich über ihre Gründungsziele hinaus noch ein Eigenleben, und das Reagieren auf tagespolitische Ereignisse bestimmt die Handlungslinie einer Partei oft nachhaltiger als die Interessenslage der Gründungsverbände.

Jede dieser Organisationen baut sich handlungsfähige Apparate auf und die entwickeln nämlich nach ihrer Gründung auch einen Selbstschutz, woraus neue Ziele entstehen, die nicht mit den ursprünglichen Zielen übereinstimmen. Da wird zum Beispiel ein Vorstand gewählt, eine Funktion, die möglicherweise eine gewisse Macht einbringt, weshalb vielleicht doch einige dies machen wollen. Und ist dies auch noch mit einem finanziellen Verdienst verknüpft, dann verteidigt man ja auch diesen Posten, um sich den Lebensunterhalt zu sichern. Verbände und Parteien werden also zu Selbstläufern, unabhängig von ihren ursprünglichen Zielen. Selbst wenn sie im Sinne der ursprünglichen Ziele gar keinen Zweck mehr erfüllen würden, hätten Verbände und Parteien einen Überlebenswillen und würden zugunsten ihres Überlebensinteresses auch ihre Politik ausrichten.

Und so kann es natürlich vorkommen, dass ein Gewerkschaftsführer so viel Geld verdient, dass er sich gar nicht mehr in die Lage der unteren Lohnempfänger hineindenken kann, oder ein Vorstand des Mieterschutzvereines besitzt unterdessen auch Haus- und Grundvermögen und ärgert sich über seine Mieter. Also besteht die Gefahr, dass besonders die starken und erfolgreichen Verbände mit gutbezahlten Funktionsträgern zunehmend andere Interessen vertreten als es die Gründungsziele vorschrieben. Und daher kommen eigentlich keine starken gesellschaftspolitischen Impulse mehr aus den traditionellen Verbänden. Und die zuständigen großen Verbände versuchen natürlich im Gegenteil noch andere Initiativen zu bekämpfen und ihr Entstehen zu verhindern, die sich mit der gleichen Materie befassen, da sie Konkurrenten wären. So wirken sie oftmals eher Interessensdämpfend statt fördernd. Und der Haus- und Grundbesitzerverein behauptet, was er macht, nutze den Mietern auch, und der Mieterschutzverein behauptet, was er macht, nutze den Haus- und Grundbesitzern auch. Und so erhalten wir als Resultat das, was wir im Moment vorfinden:
Verbände behaupten, von allem etwas zu verstehen, und ihnen gehe es um das Ganze und sie mobilisieren ihr Klientel, wenn irgendwas gegen den Verband und seine Interessen geschieht. In Wirklichkeit geht es oft doch nur um Partikularinteressen, verknüpft mit vielen nichtgenannten eigenen wirtschaftlichen Zielen der MitarbeiterInnen.

Und die Parteien verhalten sich im Grunde kaum anders. Und die Vertreter der Parteien in den Parlamenten haben ja auch gut bezahlte Arbeitsplätze, die sie verteidigen, und die Ziele der Parteien gibt es dann ja auch noch. Die darf man aber nicht zu scharf formulieren, weil dies nicht mehrheitsfähig und die Partei dann nicht Politikfähig ist.
 
Parteien
Früher hatten Parteien noch gesellschaftspolitische Ziele, für die man sich dermaleinst einsetzte, die klar formuliert wurden und viele fanden diese Ziele richtig, andere fanden sie falsch und bekämpften aus diesem Grund die jeweilige Partei. Die Parteienvertreter meinen heutzutage, das sei zu problematisch und überhaupt fundamentalistisch und die Inhalte seien ohnehin für Laien zu kompliziert. Und man erfährt ständig, dass dieser Abgeordnete seinen Posten missbrauchte und diese Partei nicht korrekt abgerechnet hat und die Diäten weiter erhöht werden. Und was die anderen machen, ist alles falsch und schlecht, weil es die anderen sind. Und daher ist es richtig, wenn man die Abgeordneten der eigenen Partei wählt, weil sie die eigenen sind, und natürlich auch noch um von Deutschland, Europa und der Welt Schaden abzuwenden.

Parteien sind heutzutage Organisationen, die längst Selbstläufer sind, große Apparate mit vielen Lohnempfängern einerseits und außerdem noch für ihre Mitglieder Arbeitsplatzbeschaffer in Parlamenten usw. andererseits. Sie saugen viele in der Gesellschaft entstehende Impulse auf, besonders bei Wahlkämpfen, denn bei denen geht es um den Schlüssel zu Schalthebel und zu richtig viel Geld. Es ist schon wichtig, wer große Staatsaufträge vergibt, weil er entscheiden kann, wer sie bekommt.

Und der Parteipolitiker ist heutzutage nicht mehr ein Mensch, der sich nötigenfalls für seine Überzeugung umbringen lässt, sondern ein cleverer Verwaltungsmensch, der mit den politischen Überzeugungen handelt und spielt und seine größten Erfolge dann hat, wenn er sich von seinen Überzeugungen distanzieren kann und ganz etwas anderes macht. Parteien stoßen heutzutage nichts mehr an, bewegen nichts mehr, sind Machtverwaltungsapparate und kämpfen bisweilen wider besseren Wissens gegen Auffassungen, die weiterhelfen würden, nur um an die bezahlten Posten und großen Gelder zu kommen.

Gremien und Einrichtungen der Gesellschaft werden zunehmend zum Parteienspielball. In der hessischen Verfassung steht, dass das Volk seine Souveränität durch Volksentscheide und das Parlament ausübt. Volksentscheide stehen zwar an der ersten Stelle, aber die Parteien haben sich zunehmend alle Entscheidungsebenen angeeignet. Der Bundespräsident, der über den Parteien zu stehen hat, ist zum Spielball von Parteieninteresse geworden. Der Bundesrat, der die Interessen der Länder bei Bundesgesetzen sichern soll, die Auswirkungen auf die Länder haben, ist zum Spielball der Blockadepolitik von Parteien geworden, oft gegen die Interessen der Länder. Die Verfassungsrichter, die über den Parteien zu stehen haben, und die zu überwachen haben, ob sich die Parteien bei ihren gesetzgeberischen Maßnahmen auch an die Verfassung halten, werden aus den Parteien vorgeschlagen von Parteienvertretern besetzt. Und die Staatsanwälte, die u.a. zu überprüfen haben, ob die Parteien sich auch an die Gesetze halten, unterstehen dem Justizminister, der wiederum möglicherweise der zu kontrollierenden Partei angehört.

Wer aus Überzeugung in einer Partei ist, muss vieles mittragen, was nicht seiner Überzeugung entspricht, weil die Partei als Machtinstrument funktionstüchtig sein soll. So müssen lesbische und schwule Abgeordnete auch für Inhalte eintreten, die gegen unsere Interessen gerichtet sind, und dann müssen sie ihre Entscheidungen uns gegenüber verteidigen. Dies trifft aber nur die Wenigen, die ein Parteikarriere machen möchten und die unsere lesbisch-schwule Bewegung als Sprungbrett dazu benutzen wollen. Aber die große Masse der Menschen unserer Bewegung nur als Zuarbeiter zu missbrauchen, das führt dann dazu, dass die großen Verbände immer weniger Basis in der Szene haben und in der Szene politische Arbeit eher nicht von Interesse ist.
Natürlich meine ich hier nicht, dass Politiker und Parteien abgeschafft gehören, denn dann würden die Millionäre auf direkten Weg selbst regieren, wie Berlusconi, der sich außerdem noch die Gesetze so ändern lässt, dass er keine mehr übertritt. Ihm gehören die meisten Medien, die anderen kontrolliert er in seiner Eigenschaft als Regierungschef.

Aber diese Zuarbeit für andere in den Parteien, das Steigbügelhalten für gute Arbeitplätze anderer, während diese ständig darüber nachdenken, wo noch eingespart werden kann, bei uns natürlich, das macht überhaupt keinen Spaß mehr. Da ist die sogenannte Politikverdrossenheit kein Wunder.

Was gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen betrifft, da reagieren die Parteien auf Druck aus gesellschaftspolitische Strömungen, wenn bei Wahlen dadurch Vorteile möglich sind. Aber Parteien sind selten bis nie die Initiatoren solcher Auseinandersetzungen. Als in der Nachkriegszeit Homosexualität immer nur verachtungsvoll gesehen wurde, als besonders die Union lautstark gegen Homosexuelle hetzte, hat sich keine Partei aus dem Aufgreifen dieses Themas Vorteile versprechen können. Also blieb die Verfolgung und Diskriminierung.

Um das Klima in der Gesellschaft zu unseren Gunsten zu verbessern, muss man aber Öffentlichkeit herstellen und in die Öffentlichkeit gehen. Das konnte man von den Parteien damals in dieser Frage nicht erwarten. Wenn einzelne Parteipolitiker uns halfen, dann musste das im Stillen geschehen, und besonders schwule und lesbische ParteipolitikerInnen mauerten bei allen Verbesserungsversuchen, damit sie selbst nicht geoutet werden, und verhielten sich den gemeinsamen Zielen unserer Leute gegenüber oft am ablehnensten, und dass konnten wir in unserer mühsamen Arbeit der kleinen Schritte nicht nur damals bei nahezu allen Parteien beobachten.

Durch die Arbeit von Personen, kleinen und größeren Gruppen und einigen Verbänden unserer Szene, konnte langsam, langsam eine Klimaverbesserung erreicht werden, die es gegen den erbitterten Widerstand von Kirchen und der CDU/CSU möglich machte, auch einige halbherzige Reformen durchzuführen, dann auch Reformen zugunsten einer von vielen Formen homosexueller Partnerschaften durchzuführen, was immerhin einen gewissen staatlichen Schutz ermöglich. Dies steht nämlich im Widerspruch zur vorherigen staatlichen Verfolgung und ist deshalb grundsätzlich erst einmal positiv zu sehen, obwohl das so Erreichte für die Frage unserer Partnerschaften absolut unzureichend, für emanzipatorische Ziele vielleicht sogar schädlich ist.
Die SPD-/Grünen-WählerInnen straften ihre Parteien für das Aufgreifen der sogenannten Homo-Ehe nicht ab. Das kann zum Beispiel die Union von ihren Unionswählern nicht erwarten, da die Union-AnhängerInnen und WählerInnen ideologisch zu einem anderen Selbstverständnis hin geführt werden. Bestenfalls könnte die Union unser Anliegen in einigen Bereichen tolerieren statt bekämpfen und hoffen, dass es sich bei ihren WählerInnen nicht herumspricht. Aber warum sollte sie es dann machen? Dennoch gibt es Lesben und Schwule, die eine CDU/CSU-Partei-Unterorganisation gegründet haben und innerhalb unserer Szene versuchen, die Menschen zugunsten ihrer Partei zu beeinflussen. Bei ihnen siegte offensichtlich der ideologische Schulterschluss mit den Zielen dieser Partei über die gemeinsamen Interessen von Lesben und Schwulen.
 
Gesellschaftspolitik
Sozialpolitik soll dazu beitragen, dass die Menschen in sozialen Fragen menschenwürdig und einigermaßen sozial gesichert leben können. Sozius ist der Bruder, lateinisch, und es geht also darum, im Mitmenschen einen Bruder zu erkennen, indem man nicht duldet, dass es ihm schlecht geht. Als Teil der Sozialpolitik wird die Gesellschaftspolitik angesehen, die sich bei ihren sozialen Bemühungen derart in gesellschaftliche Prozesse einmischt, dass sich die Politik der Verbände und Parteien selbst dadurch im Sinne auf soziale Verantwortung verändert und so zugunsten des besseren Lebens gesellschaftliche Strukturen verändert werden.

Wir wollen gesellschaftliche Strukturen zu unseren Gunsten verändern und dazu dient uns vorrangig der Versuch der Veränderung der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung setzt sich aus Auffassungen zusammen, die über die Medien transportiert werden, mehr aber aus Auffassungen, die in gesellschaftlichen Kleingruppen, vom Frühstücksgespräch am Arbeitsplatz über Kneipengespräche, Nachbarschaftsgesprächen und Freundeskreisen bis hin zu den Stammtischen diskutiert werden.

Die katholische Kirche schmeißt zum Beispiel Menschen aus Beschäftigungsverhältnissen, wenn sie eine gesetzliche homosexuelle Partnerschaft eingehen. Auch die evangelische Kirche hat Probleme mit der Anerkennung, doch gibt es hier sogar Segnungen für Leute, die so etwas für wichtig halten. Nun könnte man sagen, es ist auch seltsam, bei solchen Organisationen arbeiten zu wollen, wenn man lesbisch oder schwul ist. Diese Organisationen haben aber über einen Staatsvertrag die Möglichkeit, soziale Einrichtungen sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen zu betreiben, die dann oft die einzige Einrichtung dieser Art am Ort sind und überwiegend durch Steuermittel (zu mehr als 90%) von uns allen finanziert werden. Wer also beruflich sozial tätig sein will, braucht oft den Arbeitsplatz bei der Kirche.

Die evangelische und die katholische Kirchen zum Beispiel haben (wie neuerdings auch der Zentralrat der Juden, was das Monopol der christlichen Kirchen auf den Staat beendet) einen Staatsvertrag mit dem deutschen Staat, der ihnen bestimmte Rechte und Finanzierungen gewährt. Da es sich hier nicht um die Kirchensteuer handelt, die ja jemand zahlt, der Mitglied des jeweiligen Verbandes ist, sondern um allgemeine Steuern, die jeder zahlen muss, kann man bei steuerlich finanzierten oder unterstützten Einrichtungen auch erwarten, dass sich die Träger an die bestehenden Gesetze halten.

Solche Auseinandersetzungen führen Parteien in der Regel nicht, weil in ihren Reihen Mitglieder der jeweiligen religiösen Organisation sind, von ihren WählerInnen ganz zu schweigen, und weil bei Wahlen die Kirchen auch meinungsbildend sind. Parteien und Kirchen gehen also Zweckbündnisse ein. Ich darf nur an das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erinnern, dass Symbole zugunsten einer Religion in staatlichen Einrichtungen nicht zulässig sind. Erinnert Ihr Euch noch, was da in Bayern los war? Also Parteien trauen sich an so etwas nicht ran, im Gegenteil. Die Zusammenarbeit mit Kirchen halten sie für nützlich. Und auch große Verbände können das aus den genannten Gründen oft nicht tun. Einzelpersonen und kleine Gruppen können hier aber wirksam werden.

Es geht hier nicht darum, die Kirchenoberen zu überzeugen, denn das ist aussichtslos (die haben ihre eigenen Interessen im Kopf), sondern durch zähe mühselige Basisarbeit in der Bevölkerung ein entsprechendes Klima herzustellen. Eine solche Basisarbeit ist unverzichtbar, und wenn jede offene Lesbe und jeder offene Schwule in ihrem/seinem Umfeld auf solche Missstände hinweist, könnte hier viel erreicht werden.

Viele Leute unserer Szene ruhen sich auf Erreichtem aus und meinen, wir könnten uns nun endlich zurücklehnen. Dies ist aber ein großer Trugschluss. Bei einer Umfrage unter Jugendlichen (Siehe 71. LUST S. 13) wurde herausgefunden, dass die ablehnende und kritische Haltung gegenüber Lesben und Schwulen gerade unter Jugendlichen wieder stark zunimmt. Das ist nicht verwunderlich, weil sich hier konservative, religiöse und moralischem sowie nationalistische Auffassungen immer weiter verbrieten, was die Ablehnung alles Unangepassten einschließt und zu gewaltsamen Übergriffen gegenüber den Menschen führt, die angeblich unangepasst sind. Das hat große Nachteile für das Coming-out und zwar aus Gründen von Konflikten mit Gleichaltrigen wie auch aus Gründen innerer Konflikte, wenn solche Auffassungen verinnerlicht sind. Dabei sind viele homosexuelle Menschen zumeist in nahezu allen Bereichen ihres Lebens an konservative Normen und Werte absolut überangepasst, besonders schwule Menschen, was die Lage nicht gerade verbessert.

Überangepasste Schwule und Lesben geben schwulen- und lesbenfeindlichen Jugendlichen oft noch recht, in der Hoffnung, aus deren Schusslinie zu bleiben, und manche von ihnen bleiben im eigenen Coming-out auf halben Weg stehen und versuchen, die seltsame Moral der Lesben- und Schwulenfeinde auch vor sich selbst noch zu rechtfertigen, und sie kritisieren die angebliche Unmoral der Lesben und Schwulen vom Maßstab heterosexueller Ehe-Moralisten aus. Das hilft ihnen nun selbst überhaupt nicht und der ganzen Szene auch nicht.

Also kann man sagen, dass wir bei unsrer politischen Konzentration auf Leute, die Parteikarriere machen wollten auf die Parteipolitik mit Homo-Ehe usw. die Basisarbeit sträflich vernachlässigt haben und dass wir diese Entwicklung, die sich abzeichnet, völlig aus den Augen verloren haben. Und dieses Versäumnis droht, uns längerfristig einzuholen. Die lesben- und schwulenfeindliche Mehrheit der Jugendlichen wird unsere Zukunft lesben- und schwulenfeindlich gestalten, wenn wir nichts dagegen unternehmen.
 
Was müssen wir also tun?
Kleine generationsübergreifende Freundeskreise von Lesben, Schwulen, oder Lesben und Schwulen, die sich regelmäßig treffen und so auch zwischenmenschlich etwas für sich selbst in unserer Gemeinschaft tun, können dazu dienen, dass wir wieder im Sinne einer Bewegung handlungsfähiger werden. Dort unterhält man sich über die Erfahrungen des täglichen Lebens, was jedem von uns den Rücken stärkt und uns hilft, unsere Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Man lernt sich als Mitmensch kennen, was dazu führen kann, dass das übliche oft recht boshafte Profilieren auf Kosten anderer in der Szene unterbleibt, ein wichtige Voraussetzung für Gemeinsamkeit und Grundlage für gemeinsame Handeln.

Was könnten denn unsere Ziele sein? Sind die denn nicht zu vielfältig? Nein, keine mit Parteipropaganda verknüpfte oder mit religiösen Dogmen angereicherten Ziele möchte ich hier auflisten. Im Theaterstück "Galileo" sagt dieser zu einem Mönch: "Die Bahnen der Gestirne kann ich doch zugunsten der Kirche nicht so berechnen, dass sich auch die Ritte der Hexen auf Besen damit erklären lassen". Also will ich hier mal versuchen, Elementares aufzulisten, um was es uns gehen müsste, und habe hoffentlich nichts Wesentliches vergessen.
 
1. Es muss das Recht jedes mündigen Menschen sein, sich den oder die PartnerInnen zu suchen, die er begehrt, selbstverständlich sofern die entsprechenden begehrten Menschen dies auch wollen.

2. Es muss das Recht jedes mündigen Menschen sein, den oder die PartnerInnen abzulehnen, die er nicht mag, auch wenn irgend welche Menschen dies anders wollen.

3. Es muss das Recht aller Menschen in frei eingegangenen Lebensgemeinschaften sein, so zusammenzuleben, wie jeder von ihnen es will und wie jeder der Beteiligten dies selbst für gut und erbaulich hält. Gegenseitige Bevormundung ist kein Beweis für Liebe. In dieser Frage versteht sich nichts von selbst, denn wir sind keine heterosexuellen Ehepaare, denen alles vorgegeben ist. Außenstehende haben sich da mit ihren Vorstellungen nicht einzumischen, sofern nicht ein Eingreifen aus anderen Gründen nötig wäre, zum Beispiel bei Gewalt und Unterdrückung.

4. Es muss das Recht jedes mündigen Menschen in oder außerhalb einer Lebens- oder Liebesgemeinschaft sein, frei zu entscheiden, ob, wann und mit wem er geistige oder körperliche Kontakte pflegt, da der Wille jedes erwachsenen Menschen zu respektiren ist. Niemand muss etwas gegen seinen Willen machen und niemand muss gegen seinen Willen auf etwas verzichten. Kinder sind in Lebensgemeinschaften kein Freiwild oder Besitz und deshalb besonders vor Gewalt, Unterdrückung, sexuellen Übergriffen und auch vor ungewollten Zärtlichkeitsbelästigungen wie den Tantenkuss zu schützen.

5. Wir sind untereinander in eigenen Reihen keine Feinde oder Gegner, auch wenn wir in Einzelfragen unterschiedliche Interessen haben, sondern potenzielle PartnerInnen, zumindest aber Menschen, die das Leben der anderen nachvollziehen wollen oder können und deshalb verteidigen. Wir unterstützen uns deshalb gegenseitig bei den Versuchen, das Lebensglück zu finden, auch wenn uns dieser spezielle Weg persönlich nicht liegen würde beziehungsweise z. B. die sexuelle Besonderheit uns fremd ist. Wir sind gegenseitig keine Spießer sondern großzügig, denn wir haben alle genug Liebe und Sexualität in uns.
 
Um diese für uns so lebenswichtigen Lebens- und Liebensrechte überall verständlich machen zu können, müssen wir uns überall, wo wir leben, für den entsprechenden Freiraum einsetzen und gegen folgende Personen oder Organisationen Stellung beziehen:
 
1. Personen und Organisationen, die uns vorschreiben wollen, welche Form des Zusammenlebens und des Liebens gut und welche schlecht sei, versuchen uns zu entmündigen. Es ist aber unser Leben, um das es uns geht. Das trifft auch Religionsgemeinschaften und politische Organisationen.

2. Personen und Organisationen, die uns dafür sündig nennen, dass wir lieben, wen wir lieben, und dass wir sexuell tun, was uns Lust bereitet, beleidigen uns und können nicht von uns anerkannt oder unterstützt werden.

3. Personen und Organisationen, die Menschen nach unterschiedlichen Merkmalen oder Gesichtspunkten in bevorrechtigt und benachteiligt einteilen wollen, diskriminieren ganze Menschengruppen, was wir nicht dulden können, auch wenn es nicht um uns, sondern um andere Gruppen von Menschen geht.

4. Personen und Organisationen, die sich dadurch Vorteile verschaffen wollen, dass sie andere Menschen traurig machen, demütigen, ihnen ihr Lebensglück verweigern wollen, ihnen keine Chancen lassen wollen, sind von uns zu bekämpfen, denn wir haben es auch durch unser eigenes Verhalten selbst in der Hand, ob jemand glücklich oder traurig ist.

5. Personen oder Organisationen, die dann bedeutungslos werden oder untergehen, wenn sie nicht demütigen oder unterdrücken, sollen ruhig bedeutungslos werden oder untergehen.
 
Wir haben viel zu tun und können deshalb nur dann die Hände in den Schoß legen, wenn uns das Lust macht.
 
Politik ist geil
Lasst die unerfreulichen Parteikarrieristen selbst für ihre Karrieren arbeiten, tut lieber etwas für Euer eigenes Lebensglück.
Die kleinen Gemeinschaften von Menschen, die sich alleine schon dadurch füreinander verbindlich fühlen, weil sie sich bei den gemeinsamen Aktivitäten kennen gelernt haben, lassen den Einzelnen nicht in der Masse untergehen und vereinigen das Eintreten für Ziele, die uns nicht beschämen müssen, mit gegenseitiger Freundschaft.
Wir werden uns dabei wohl fühlen, Vereinsamungen, die es auch mitten in Massen gibt, überwinden, Freundschaft füreinander empfinden, gegenseitiges Verständnis aufbringen, Interesse am Wohlergehen füreinander entwickeln und an Zielen arbeiten, die uns allen nutzen und bei denen es uns, wenn wir morgens in den Spiegel sehen, nicht schlecht wird. Ist das denn nichts? (Joachim Schönert)