Diesen Text habe ich ca. 1990 geschrieben, galube ich, aber immer wieder neu ergänzt.
 
Freizeit
Arbeitsfreie Zeit ist keine Freizeit, sondern die Ergänzung der Arbeitswelt, ein reinigender Ausgleich sozusagen, der es ermöglicht, die Arbeitswelt zu bewältigen und am nächsten Tag wieder Arbeitsfähig zu sein...
 
...das lernte ich im soziologischen Seminar an der Uni. Und so hatte ich mein Leben bisher nicht gesehen, so wollte ich auch nicht leben, aber es kam so Schritt um Schritt.
 
Die Arbeitswelt hat eine ungeheure Integrationskraft, man wird durch sie ein anderer Mensch. Freizeit wird zum Ausgleich der Arbeit. Es gibt dann kein selbstbestimmtes Leben mehr, gab es vielleicht auch nie.
 
Wäre ich alleine selbstbestimmt (aber irgrndwoher benötigt man die Mittel dazu) und wollte auch nicht alleine leben, dann wäre ich gezwungen, mich dennoch an die Arbeitswelt anzupassen, die Arbeitswelt der anderen. Was also habe ich in meiner Freizeit gemacht?
 
1. Die Freizeit des Schülers
Hat ein Schüler Freizeit? Man könnte definieren, dass ein Schüler die eigentliche Zeit, in der er in der Schule ist, als eigentliche Schulzeit betrachtet, den Rest der Zeit als Freizeit. Daher vielleicht der Widerstand gegen Hausaufgaben, die die Freizeit beschneiden?
 
Gegenwärtig (April 2006) wie viel von der Vorschule geredet, in der die Kinder auf die Schule vorbereitet werden sollen. Das heißt, die Zeit, in der das Kind nicht gesellschaftlich anerkannte Arbeit leistet, soll beschnitten werden.
 
Die Zeit, die ich nicht in der Schule war, was oft mit Familienpflichten angefüllt. Ich kann mich an meine Freizeit neben Schule, Hausarbeiten (Familienpflichen) und Hausaufgaben nur noch wenig erinnern. Ich hatte sie schon, bin spzieren gegangen, habe mich mit Mitschülern und Kindern der Straße rumgetrieben, wie das so schön heißt, habe schon früh sehr viel gelesen. War das Freizeit? Ich kann rückblickend nicht mehr differenzieren, wo ich willentlich Freizeit hate und woch ich in der schulfreien Zeit Verpflichtungen und Kompensierungen nachgegangen bin.
 
2. Die Freizeit des Lehrlings und Berufstätigen (1)
Nun, so viel Wahlmöglichkeit hat man ja nicht. Ich wollte in meiner freien Zeit in die Stadt, etwas erleben. Also setzte ich mich auf mein Fahrrad, später auch Moped, fuhr in die Stadt. Ich ging in ein Schnellimbiss, diese Kioske und Läden gab es damals überall, wo man Würstchen, Pommes Frites und Nierespieße in einer scharfen Tunke und ein Brötchen bekommen konnte. Dann ging ich auch sehr oft ins Kino.
 
War der Film aus, ging ich in ein anderes Kino. Später vielleicht noch in die Spätvorstellung. Dann gings zurück in die Gärtnerei, wo ich ein Zimmerchen hatte. Mein Geld, das ich wöchentlich erhielt, war damit aufgebraucht. Mehr war nicht möglich.
 
Auf Anraten meiner Mutter besuchte ich eine Tanzschule, dort sollte ich vielleicht eine Freundin kennenlernen. Das tat ich aber nicht, weil ich mich eigentlich nicht so sehr für eine Freundin interessierte. Auch wenn ich mit Kollegen am Wochenende ins Rheingau fuhr, wo diese "Frauen" kenenlernten, wurde ich nicht fündig. "Kennenlernen", das ist für viele eine Lebensaufgabe. Für mich war es das damals nicht. Am liebsten zog ich mich zurück und las in irgendwelchen Büchern oder, wenn ich es mir leisten konnte, ging ich ins Kino, ich lebte dann in anderen Welten. Möglicherweise gings mir damals immer noch darum, also um Flucht aus der Realität.
 
3. Die Freizeit des Soldaten
Es war eigentlich keine "Freizeit", was Soldaten in der Militärzeit erlebt hatten. Es war zugleich Verlängerung der männerbündlerischen Rituale als auch Ausgleich gegenüber dem Drill und der agressiven Männerbündelei.
 
Also, um was ging es? Um das Saufen, um das Prahlen über Frauenabenteuer, um das Prahlen überhaupt.
 
An den Wochenenden fuhr ich mit meinem Moped in die umliegenden Dörfer und sah sie mir an. Die anderen hatten vielleicht Familie oder andere Bezugsgruppen, ich blieb meistens dort, wo ich gerade stationiert war. meine sogenannte Herkunftsfamilie war mir eigentlich auch fremd geworden, was mir früher noch nicht so bewusst war. Es zog mich jedoch nichts dort hin.
 
Aus heutiger Sicht weiß ich, dass ich mit meiner Freizeit einfach nichts anzufangen wusste. Sexualität? Nun, sie spielte schon eine Rolle, in der Beschäftigung mit mir selbst. Später lernte ich auch in Wiesbaden eine Freundin kennen. Da spielte sie schon eine gewisse Rolle. Aber es war, zumindest aus meiner heutigen Sicht, keine solche bedeutende Rolle.
 
4. Die Freizeit des Berufstätigen (2)
Ich kam etwas geläutert und desillusioniert vom Militär zurück und nahm eine Stelle in der Erfurter Samenzucht in Niederwalluf an.
 
Ich wurde Mitglied des Männergeangvereins, in dem mein direkter Vorgesetzter auch Mitglied war, was ich gesellschaftlich für notwendig hielt, was zweifellos auch der Fall ist, wenn man in einer kleinen Gemeinde lebt und einige Beziehungen braucht denn hier geht es nicht ohne Beziehungen.
 
Hier lernte ich auch an Silvester 1968/69 die Gärtnergehilfin Renate Sorgenfrei aus Kiel kennen, die ebenfalls nach Niederwalluf kam, um hier zu arbeiten.
 
Bei den Fastnachtsveranstaltungen, bei Bällen in der Turnhalle und anderen Geinsamkeiten traten wir als Paar auf, wie man es auf dem Foto unten links sehen kann. Wie waren ja auch ein Paar und lernten dabei überdeutlich, dass man gemeinsam mehr erreichen kann als alleine.
 
Das ist wohl das wichtigste aus dieser Zeit, obwohl sie für mich rundum sehr prägend war. Das Foto links oben zeigt Renate in unserer ersten gemeinsamen Wohnung im Dach eines Mietshauses in Wiesbaden, in der Bleichstraße 20.
 
Wir fuhren zusammen mit dem Motorroller auf die Arbeit, genossen unser Leben zusammen und irrtierten unsere Verwandschaft, die sich eine große Hochzeit gewünscht hatte, mit einer stillen Eheschließung am 16.04.70. Irgendwie sind wir gar nicht auf die Idee gekommen, sie einzubeziehen, denn es ging sie nichts an. Wir heirateten eigentlich nur, weil wir Ärger mit den MitmieterInnen bekamen, da wir angeblich eine sogenannte "wilde Ehe" führten, und weil wir endlich Ruhe haben wollten.
 
Vorausgegangen war eine Unterschriftensammlung von HausbewohnerInnen, die vom Hausbesitzer erreichen wollten, dass wir die Wohnung verlieren sollten, weil wir nicht verheiratet waren.
 
Bei uns traf sich jedoch eine linke politische Gruppe, die aus einer Betriebsgruppe der Erfurter Samenzucht und FreundInnen vom Abendgymnasium sowie persönlichen FreundInnen hervorgegangen war. Also heirateten wir einfach und der Hausfrieden war erst einmal gerettet.
 
Politisch war nämlich in der Zwischenzeit etwas geschehen, was an anderer Stelle erläutert wird. Konventionen spielten jedenfalls keine Rolle mehr.
 
Ich arbeitete am Tag in der Erfurter Samenzucht und später beim Landschaftsgärtner Richard Bierbrauer, besuchte abends das Wiesbadener Abendgymnasium und lernte nachts und an den Wochenenden das, was man für ein Zeugnis der Reife als notwendig empfindet. Dann begann mein Studium.
 
Unsere Freizeit, die Arbeitsfreie Zeit zwischen Studium und Jobs verbrachten wir in linken Zirkeln und Kreisen. Diese Freizeit"vergnügungen" war völlig anders, als wir es vorher im Rahmen des Gesangvereins oder noch unserer Herkunftsfamilien oder noch Früher kennengelernt hatten. Näheres findet Ihr unter Politik.
 
Als wir die kleine gemeinsamen Wohnung wegen der anderen MieterInnen nicht mehr halten konnten, zogen wir um, in eine großen sanierungsbdürftige 5-Zimmer-Wohnung, wo immer mal noch andere bei uns wohnen konnten, sozusagen als Wohngemeinschaft, und wo sich die politische Gruppe treffen konnte.
 
Die Leute, die sich bei uns trafen, gehörten zur sogenannten Alternativszene, besonders nachdem es zu einer Trennung zwischen uns und der maoistischen Gruppe, die sich aus der von uns gegründeten Betriebsgruppe der Erfurter Samenzucht gebildet hatte, kam. Diese eher dogmatischen Damen und besonders Herren hatten Angst, nach unserem öffentlichen Auftreten als Lesbe und Schwuler, einen Image-Schaden zu erleiden. Das wars dann. Von solchen dogmatischen Menschen ist wohl kaum eine Verbesserung des Lebens der Menschen zu erwarten.
 
5. Die Freizeit des Studenten
Hat ein Student Freizeit? Von außen mag es so aussehen, doch gibt es eigentlich keine Trennung zwischcen Studium und Freizeit, weil alles ineinander fließt. Doe politischen Diskussionen sind wichtige Erfahrungen im kommunikativen Bereich gewesen, denn man lernt, dass man mit bloßer Rhetorik, ohne wirklich viel zu wissen, politisch relativ erfolgreich sein kann.
 
Viele rhetorische Kniffe, die ich damals gelernt hatte, nutzte ich später in meinem beruflichen Leben, besonders, wenn es brezlich wurde. Was wir dort über Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Politik, Didaktik der betreffenden Fächer lernten, war kein fremder Stoff, sondern war für uns wie die Erweiterung von uns selber, wie ein lustvolles Hobby. Und so kann ich die oben vertretene Auffassung bestätigen, dass es keine Trennung zwischen Studium und Freizeit gibt.
 
Einzig der Tagesablauf war anders, als ich es aus der Arbeitswelt kannte: Man stand später auf und legte sich später ins Bett. Die Kneipen waren Teil des Familienlebens, die studentischen Diskussionsgemeinschaften waren Teil des privaten Freundschaftskreises, also auch eine Wahlfamilie.
 
6. Die Freizeit des Berufstätigen (3)
Die als Freiheit gefühlte Studienzeit lag mir noch in den Knochen, als ich nun mühsam Arbeitswelt und Freizeit auseinanderpflücken musste. da das emanzipatorische und aufgeklärte Weldbild, versetzt mit ideologischen unhaltbaren Vorstellungen, nicht in der Berufswelt zu vertreten war, musste man eine Art "Doppeldenk" entwickeln, entsprechend dem Roman 1984.
 
Die Frezeit, also die Zeit außerhalb der Arbeitszeit, war das eigentliche Leben, so schien es, und das andere, das falsche Leben am Arbeitsplatz führte man nur, um das eigentliche Leben zu finanzieren. das eigentliche Leben war das Leben in der Lesben- und Schwulenszene, das Leben in der links-alternativen Szene, das Leben in der Wahlfamilie.
 
Nun hat sich wowohl in der links- alternativen Szene wie auch in der Lesben- und Schwulenszene das Klima radikal geändert. Daraus ergibt sich, dass auch hier Doppelmoral, miese Vorteilnahme auf Kosten anderer, Karrieregeilheit mit den entsprechenden Begleiterscheinungen, die man ja aus dem normalen Geschäftsleben kennt, überall verbreitet ist. Und daher ist diese Trennung nicht wirklich aufrecht zu erhalten
 
Die Wahlfamilie war nun der Puffer, der letztlich hier Rückhalt und Hilfe geben sollte und dies auch konnte. Und unsere Wahlfamilie, bestehend aus mir, Renate und Thomas hat so Manches mitmachen müssen, was hier zu umständlich zu erklären ist. Aber zieht man sich in die Wahlfamilie zurück, gerät man in gesellschaftliche Isolation, da die Freundeskreise auseinander laufen und verschwinden, wenn man sie nicht pflegt.
 
Nun gut, die Zeit der Rente soll uns einmal für all das entschädigen, was wir nicht machen konnten, weil letztlich die Erwerbsarbeit tief in das Freizeitverhalten eingreift. Nicht nur deshalb, weil wir derart abhängig sind, sondern auch deshalb, weil unsere Freundinnen und Freunde derart abhängig sind. Und das bemerkt man dann, wenn man nun Rentner ist, und alle anderen Leute keine Zeit haben.
 
Wir haben uns aber auch etwas vorgemacht, mit der Auffassung, dass uns im wsentlichen die Erwerbsarbeit am Entfalten hindert. Denn die Welt der Freizeit, ist für andere Menschen auch eine Erwerbsarbeit, sie ist eine Industrie, und eben gerade deshlab herschen hier eben auch die Gesetze vor, denen wir in unserer Freizeit davonlaufen wollten.
 
7. Hat ein Rentner immer Freizeit?
Die Leute verwechseln Arbeit mit Erwerbsarbeit. Ein Rentner hat viel Arbeit, auch wenn er nicht mehr einer Erwerbsarbeit nachgeht. Ich bin nun heute, am 01.07. 2005 ein Jahr lang Rentner, und kann nicht finden, dass ich Freizeit habe. Genau genommen bin ich ja im Vorruhestand, und der endet am 31.12.2006, und danach bin ich erst richtig Rentner und beziehe meine Rente.
 
Vielleicht ändert sich das Gefühl ja, dass man keine Zeit hat, wenn man hinfälliger wird? Das will ich aber noch lange nicht sein (man kann sichs natürlich nicht aussuchen). ich kann nach einem Jahr im Vorruhestand hier noch keine Aussage treffen.
 
Joachim Schönert
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